Nachrichten & Pressemeldungen - Lieferkettengesetz

Schlupflöcher für Unternehmen: MSI und Zertifizierungen

Bonn, 20.01.2023. Am 1. Januar 2023 ist das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) in Deutschland in Kraft getreten. Aus Sicht von NGOs ist es ein guter Start, aber wir sind noch nicht am Ziel. Auf EU-Ebene liegt seit Februar 2022 der Vorschlag der EU-Kommission für ein EU-Sorgfaltspflichtengesetz vor und Anfang Dezember 2022 haben sich die EU-Mitgliedstaaten auf ihre vorläufige Position im Rat geeinigt. Derzeit bereitet der federführende Rechtsausschuss die Position des EU-Parlaments vor. Immer wieder kommt es zu der Frage, ob Multi-Stakeholder-Initiativen (MSI) und Zertifizierungen als Nachweis zur Einhaltung der menschenrechtlichen und umweltbezogenen Sorgfaltspflichten von Unternehmen eine Rolle spielen sollten und wenn ja, welche? Für die einen soll die Mitgliedschaft in einer MSI oder die Vorlage einer Zertifizierung bereits Beleg dafür sein, dass das Unternehmen seine Sorgfaltspflichten einhalte. Andere erhoffen sich durch die Mitgliedschaft in MSI oder das Verwenden von anerkannten Zertifizierungen, dass Unternehmen für leichte Fahrlässigkeit nicht mehr zur Haftung gezogen werden können.

All diese diskutierten Rollen für MSI und Zertifizierungen halten die hier unterzeichnenden NGOs für gefährliche Schlupflöcher zum Nachteil von Mensch und Umwelt, die es zu verhindern gilt. Dieses kurze Papier stellt die wichtigsten Argumente zusammen, die gegen diese Schlupflöcher (safe harbour) sprechen.

Multistakeholder-Initiativen

Die 2020 durchgeführte umfassende Untersuchung [i] von 40 Multistakeholder-Initiativen (MSI) aus verschiedenen Sektoren von MSI Integrity kam zu dem Ergebnis, dass MSI keine wirksamen Instrumente seien, um Unternehmen für Missstände zur Rechenschaft zu ziehen, Rechteinhaber*innen vor Menschenrechtsverletzungen zu schützen oder Überlebenden und Opfern Zugang zu Wiedergutmachung zu verschaffen. MSI könnten zwar wichtige und notwendige Foren für das Lernen, den Dialog und den Aufbau von Vertrauen zwischen Unternehmen und anderen Interessengruppen sein, doch sollten sie nicht für den Schutz der Menschenrechte herangezogen werden.

Diese Schlussfolgerung basiert auf zwei Erkenntnissen:

  • MSI stellen nicht die Rechteinhaber*innen in den Fokus, stattdessen ist ihr Ansatz top-down. Die Initiative und die Entscheidungen werden von der Wirtschaft oder Politik getroffen, die Betroffenen haben meist kein Mitspracherecht und erst recht kein Mitbestimmungsrecht.
  • MSI verändern nicht die Machtungleichgewichte, die zu Missbrauch führen. Die wichtigsten Mechanismen, wie z. B. Beschwerdesysteme zur Aufdeckung oder Beseitigung von Missständen, sind strukturell schwach.

MSI können jedoch positive Ergebnisse erzielen, wenn die Mitglieder der MSI sich ernsthaft zu Veränderungen verpflichten. Aber wenn dieser gute Wille nicht vorhanden ist oder zusammenbricht – was häufig der Fall ist –, können MSI nur wenig zum Schutz der Menschenrechte und Umwelt beitragen. Keine MSI kann die umfassenden, kontinuierlichen und kontextspezifischen Sorgfaltspflichten ersetzen, die Unternehmen gemäß UN- und OECD-Standards haben.

Die Autor*innen der MSI Integrity-Studie kommen deshalb zum Schluss, dass freiwillige MSI durch staatliche Regulierung zum Schutz der Menschenrechte im unternehmerischen Kontext ergänzt werden müssen. Mit dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) ist dies nun in Deutschland der Fall. Dies bedeutet aber explizit nicht, dass Unternehmen ihre Mitgliedschaft in einer MSI als Beleg für die Erfüllung ihrer Sorgfaltspflichten nutzen können. MSI sind eher eine Lernplattform, sie haben aber erwiesenermaßen in keinem der von MSI Integrity untersuchten 40 MSI zur Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten geführt.

Zusätzlich zu den oben genannten Gründen sprechen folgende Argumente dagegen:

MSI haben aufgrund ihrer Freiwilligkeit in der Regel schwache Durchsetzungsmechanismen. Es fehlen ein effektives Monitoring und Transparenz über die Einhaltung der Standards durch die einzelnen Mitgliedsunternehmen. Obwohl Unternehmen Mitglieder einer MSI sind, erfüllen sie häufig nicht deren selbst gesetzte Standards. Oft gibt es keine Eingangsvoraussetzungen, die vor einer Mitgliedschaft zu erfüllen sind (z.B. im Textilbündnis oder dem Forum Nachhaltiger Kakao). Außerdem fehlt es an effektiven Durchsetzungsmechanismen und Sanktionen werden nur selten verhängt. Meist gibt es überhaupt keine Ausschlusskriterien oder es droht der Ausschluss aus der MSI, der wenn überhaupt verzögert stattfindet, ohne dass dies für das Unternehmen Folgen hätte.  

Neben den fehlenden Sanktionsmöglichkeiten und dem fehlenden Einbezug von Rechteinhaber*innen besteht häufig ein niedriges Anspruchsniveau (PDF) bei den MSI. „Beim Bündnis für nachhaltige Textilien hat sich gezeigt, dass der Anspruchsgrad der Anforderungen negativ mit der Beteiligungsquote der Unternehmen korreliert: Je höher das Anspruchsniveau einer Multi-Stakeholder-Initiative, desto geringer die Teilnahme seitens der Industrie. In anderen MSI, wie beispielsweise dem Forum Nachhaltiger Kakao, orientiert sich das Anspruchsniveau am kleinsten gemeinsamen Nenner und an dem, was die Mehrheit der Unternehmensmitglieder ohnehin bereits umsetzt (z.B. Bezug von zertifizierten Rohstoffen). Eine Vorreiterfunktion durch die Stärkung ambitionierter und innovativer Sorgfaltsansätze besteht durch diese MSI daher nicht.“[ii] Die Zielsetzungen eines Großteils der in Deutschland aktiven MSI werden den Ansprüchen der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sowie der sektorspezifischen Leitlinien der OECD und des LkSG nicht gerecht.

Zertifizierungen durch Audits

Meist berufen sich Unternehmen wie auch standardsetzende MSI auf Audits, wenn sie ihre Sorgfaltspflicht / ihren Standard nachweisen wollen, deren Ansatz und Wirksamkeit in Hinblick auf eine Verbesserung der Arbeits- und Umweltbedingungen schon oft in Frage gestellt worden ist (PDF) [iii]. Der Besuch von Auditoren liefert bestenfalls eine Momentaufnahme – vorher und nachher kann es in der Fabrik oder auf der Plantage ganz anders aussehen. Zudem: Betroffene Arbeiter*innen oder ihre Gewerkschaften bekommen keinen Einblick in den Audit-Bericht und können daher nicht auf Fehler hinweisen. Bäuer*innen, Landarbeiter*innen und ihren Gemeinschaften wiederum hilft eine Zertifizierung nicht, wenn nicht die tieferen Ursachen für Menschenrechtsverletzungen, in der Regel sehr niedrige Einkommen aufgrund des niedrigen Preises für die angebauten Produkte, angegangen werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Preis- und Zeitdruck, den viele europäische Firmen im Textilsektor und anderswo auf ihre Lieferketten ausüben, der jedoch meist außerhalb des Radars von Audits und entsprechenden Initiativen liegt.

Vor allem aber beauftragen die Fabriken oft ihre eigenen Prüfer*innen. Um einen Auftrag zu erhalten, müssen sie das Audit-Zertifikat vorzeigen können. Da wäscht eine Hand die andere, denn die Prüfer*innen wollen ja auch einen Nachfolgeauftrag. Dies und die fehlende Transparenz von Prüfungsberichten bemängelte auch die Nationale Kontaktstelle beim Bundeswirtschaftsministerium in ihrem finalen Statement (PDF) [iv] im Jahr 2018 bezüglich der OECD-Beschwerde gegen den TÜV Rheinland. Der Fall wurde damals von den NGOs FEMNET und ECCHR eingereicht und hat gezeigt, dass ohne Rechenschaftspflichten der Auditprüfunternehmen und mehr Transparenz bzw. Einbeziehung von Betroffenen Audits nur als Feigenblatt der Industrie dienen. Dies wird im Blogbeitrag unter dem Titel „Wie kann man Kontrolleure kontrollieren?“[v] detailliert dargelegt.

Ein weiteres Beispiel für die Unzulänglichkeit von Audits ist die Rana Plaza-Katastrophe 2013 in Bangladesch. Kurz vorher hatte der TÜV Rheinland im Auftrag von BSCI/Amfori bei einer der Fabriken im Rana Plaza-Gebäude ein Audit durchgeführt und bei diversen Arbeitsbedingungen (Versammlungsfreiheit, Überstundenzwang, etc.) keine Beanstandungen festgestellt. Dies wurde im Buch Todschick mit einer Kopie des sonst geheim gehaltenen BSCI-Audits belegt[vi]. Auch bei der Fabrik Ali Enterprises in Pakistan gab es ein Sozialaudit und sogar eine SA8000-Zertifizierung. Kurz danach brannte die Fabrik ab, die fehlenden Notausgänge waren nicht erkannt worden. Oder reicht eine ausreichende Bestechung, wie es beispielsweise in China [vii] viel praktiziert wird? Farmen wiederum werden, etwa im Kakao- sowie im Kaffeesektor, zwar nach den Kriterien von standardsetzenden Organisationen, wie beispielsweise Fairtrade und Rainforest Alliance, oder aber nach von Unternehmen entworfenen Standards zertifiziert, doch existenzsichernde Einkommen und Löhne sind nicht Teil der – durch Audits ohnehin nur bedingt verifizierbaren (s.o.) – Kriterienkataloge. Daher wissen alle Beteiligten im Sektor, dass es in Phasen niedriger Rohstoffpreise bei Systemen ohne ausreichende Mindestpreise zu Menschenrechtsverletzungen inklusive Kinderarbeit kommt. Dennoch werden die Produkte gelabelt gehandelt und Menschenrechtskonformität suggeriert.

***

Die aufgeführten Argumente zeigen deutlich, dass MSI und Zertifizierungen zu einem problematischen Greenwashing führen können, wenn sie allein als Nachweis für die Sorgfaltspflicht eines Unternehmens dienen sollen. Daran würden auch Verbesserungen entlang von Fitness-Kriterien für MSI und Zertifizierungen nichts ändern, denn die Grenzen dieser Instrumente sind grundsätzlicher, systemischer Natur.[viii] Sie dürfen keinen safe harbour begründen. Das Potential eines künftigen Haftungsmechanismus‘ für Wiedergutmachung und als Motor vielfältiger und wirksamer Sorgfaltsmaßnahmen jenseits von Abhaklösungen („tick box“) würde sonst unterminiert.

Ein Statement verschiedener MSI, darunter große Initiativen wie Amfori, FWF, ETI und SAC, lautet: „Due diligence does not shift responsibility onto others such as MSI“[ix]. Oder wie es standardsetzende Organisationen wie Fairtrade, Demeter, u.a. selber formulieren: „Ambitionierte und vertrauenswürdige Standard- und Zertifizierungssysteme können somit zwar einen wichtigen Beitrag zur Erfüllung von unternehmerischen Sorgfaltspflichten leisten und sollten als ein Element bei der Umsetzung aufgenommen werden, sie können Unternehmen jedoch nicht grundsätzlich oder pauschal von ihrer Verantwortung zur Umsetzung von vollumfänglichen Sorgfaltspflichten befreien oder diese stellvertretend für sie erfüllen.“[x] Ähnlich formuliert es auch das Meta-Governance-System für Nachhaltigkeitsinitiativen ISEAL, dem unter anderem Fairtrade und die Rainforest Alliance angehören: “The responsibility and liability should not be shifted to third-party verifiers or sustainability schemes that facilitate due diligence processes, nor should the use of such initiatives create a ‘safe harbour’ to protect companies.”[xi]

Dieses Papier wurde erstellt von

 logo femnet 2019

in Kooperation  mit

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Quellen

[i] MSI Integrity (2020): Not fit for purpose. The Grand Experiment of Multi-Stakeholder Initiatives in Corporate Accountability, Human Rights and Global Governance

[ii] CorA-Netzwerk für Unternehmensverantwortung (2020:8): Anforderungen an wirkungsvolle Multi-Stakeholder-Initiativen zur Stärkung unternehmerischer Sorgfaltspflichten (PDF)

[iii] Clean Clothes Campaign (2019): Factsheet Sozialaudits (PDF)

[iv] BMWi (2018): Abschließende Erklärung der deutschen Nationalen Kontaktstelle […] anlässlich einer […] Beschwerde gegen TÜV Rheinland (PDF)

[v] ECCHR & FEMNET (2019): Sozialaudits in der Textilbranche. Wie kann man Kontrolleure kontrollieren?

[vi] Burckhardt, G. (2014:120ff): Todschick – Edle Labels, billige Mode – unmenschlich produziert. Hrsg. Wilhelm Heyne Verlag, München

[vii] China Macro Economy (2021): Bribes, fake factories and forged documents: the buccaneering consultants pervading China’s factory audits

[viii] SOMO (2022): A piece, not a proxy

[ix] Joint recommendations from an alliance of garment industry representatives for the EU Corporate Sustainability Due Diligence Directive (2022:3): Due diligence: taking responsibility in value chains (PDF)

[x] Statement (2022): Der Beitrag von standardsetzenden und zertifizierenden Organisationen zur Erfüllung von Sorgfaltspflichten (PDF)

[xi] ISEAL Alliance (2022): Verification and multi-stakeholder initiatives that use credible practices are essential for Corporate Sustainability Due
Diligence, but they do not replace corporate accountability
(PDF)

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