Unser Feminismusverständnis

Feministische Ideen spielen eine zentrale Rolle für FEMNET; sowohl in der inhaltlichen Arbeit als auch in der Organisation des Vereins und der Zusammenarbeit im Team. In diesem Text stellen wir unser Feminismusverständnis vor.

Für Selbstbestimmung, Solidarität und gleiche Rechte

Feministische Anliegen stehen heute - dank engagierter, langer Kämpfe – in der Mitte der Gesellschaft. Innerhalb der feministischen Bewegung gibt es vielfältige Interpretationen und Praktiken des Feminismus. Auch umfasst sie mehrere Generationen von Feminismen und Feminist*innen, die ihre eigenen Erfahrungen und Forderungen mitbringen.

Feministisch zu leben und zu arbeiten, bedeutet für uns: sich einzusetzen für mehr Geschlechtergerechtigkeit weltweit; bei uns selbst und in der Gesellschaft. Die sozialen Folgen von Sexismus drücken sich noch immer in Armut, Ausbeutung und Gewalt aus. Unsere Projektarbeit nimmt vor allem Frauen in den Blick, da diese von den negativen Auswirkungen globalen Wirtschaftens besonders betroffen sind. Darüber hinaus ist uns bewusst, dass Menschenrechtsverletzungen bei Weitem nicht nur Personen betreffen, die sich als Frauen identifizieren, als solche geboren wurden oder als solche wahrgenommen werden. Schaden tragen auch insbesondere queere und trans Personen.

Ziel unserer feministischen Arbeit ist es, dass Personen unabhängig von ihrem Geschlecht Respekt erfahren, in Sicherheit leben, ein Auskommen haben und ihr Leben gestalten können. Kurz gesagt: Ohne Sexismus und andere Diskriminierung ihr Leben leben können.  

Viel erreicht – und noch viel zu tun

In den letzten Jahrzehnten haben feministische Bewegungen weltweit enorme Erfolge erkämpft. So auch in Deutschland: von der Einführung des Frauenwahlrechts 1918, über die Verankerung der Gleichberechtigung der Geschlechter im Grundgesetz 1949 bis hin zur massenhaften Bekanntmachung sexualisierter Gewalt durch die Hashtags #aufschrei und #metoo. 

Viel ist getan, aber längst nicht alles erreicht. Ein Blick auf aktuelle Entwicklungen zeigt, dass feministisches Engagement wichtig bleibt. Aktuell sehen wir uns mit populistischen Strömungen und politischen Leitfiguren konfrontiert, die offenen Sexismus und Rassismus für gesellschaftsfähig halten. Täglich erleiden in jedem Land dieser Welt Personen Menschenrechtsverletzungen aufgrund ihrer geschlechtlichen und sexuellen Identität. Täglich werden weltweit Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts ermordet. Tief verankerte Rollenbilder sowie kulturelle und religiöse Werte werden benutzt, um Ausbeutung und Diskriminierung zu rechtfertigen. So sehen wir global betrachtet – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung – weiterhin Gesellschaften, die von sexistischen und rassistischen Strukturen durchzogen sind.

Feministische Bewegungen sind gut organisiert und medial präsent. Feministisches Engagement ist in den letzten Jahren im wahrsten Sinne des Wortes „tragbar“ geworden: mit Slogans und Symbolen auf Kleidungsstücken und Accessoires. Diese popkulturelle Repräsentation geht Hand in Hand mit einer höheren Präsenz feministischer Inhalte, unter anderem in sozialen Medien. Diese Präsenz finden wir wichtig. Gleichzeitig ist es mit einem leicht konsumierbaren Feminismus für uns nicht getan. Wir wollen die höhere gesellschaftliche und mediale Aufmerksamkeit dazu nutzen, die komplexen Hintergründe feministischer Anliegen zu diskutieren. Einer Verflachung des Begriffs wollen wir entgegenwirken, weil wir überzeugt sind, dass Feminismus gerade heute eine wichtige Haltung für Gesellschaften weltweit ist.

Für geschlechtliche und soziale Gerechtigkeit

Geschlechtergerechtigkeit ist ohne den größeren Kontext der allgemeinen Grundsätze der Menschenrechte nicht denkbar. Sie ist untrennbar verbunden mit der Veränderung sozialer Machtverhältnisse, die Menschen rassistisch diskriminieren oder aufgrund ihres Alters, ihrer sexuellen Identität, Religion, Nationalität, Klasse, Kaste oder ethnischer Zugehörigkeit unterdrücken, ausbeuten oder marginalisieren. Feminismus steht für die Veränderung sozialer Machtverhältnisse. Alle Menschen müssen Zugang zu menschenwürdigen Lebens- und Arbeitsbedingungen haben. Niemand sollte in Armut leben.

Die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit ist für uns mit weiteren sozialen Fragen verzahnt. Wir wollen mit unseren Kampagnen einen Beitrag zu den Debatten um Lohn- und Care-Arbeit leisten. Auch in diesem Kontext halten sich Geschlechterstereotype und Rollenbilder hartnäckig, zum Beispiel darüber, welche Tätigkeiten als „natürlich weiblich“ gelten und welchen Arbeiten Frauen nachgehen sollten. 

Frauen sind noch immer schlechter bezahlt als Männer, arbeiten seltener in hochqualifizierten Positionen und sind katastrophal unterrepräsentiert in Leitungs- und Entscheidungsgremien. Wir fordern, dass finanzielles Auskommen und beruflicher Erfolg nicht vom Geschlecht abhängen dürfen. Größen wie der Gender Pay Gap (Lohnlücke) und der Gender Pension Gap (Rentenlücke) sprechen für sich selbst. Ebenso wie der Gender Care Gap. Er belegt beispielsweise für Deutschland, dass Frauen deutlich mehr – bis zu doppelt so viel – Care-Arbeit leisten als Männer. Die Krisen der jungen Vergangenheit, darunter die Finanzkrise und die Covid-19-Pandemie, lassen diese Ungleichverteilung noch stärker hervortreten. Wir fordern, dass sorgende Tätigkeiten fair verteilt werden. Rollenbilder sollen nicht weiter dazu benutzt werden, Personen Care-Arbeit zwingend aufzuerlegen bzw. sie davon auszuschließen. Unsere Vision von Feminismus ist die Verwirklichung von Formen des Zusammenlebens, die die Potenziale jedes Menschen würdigen und zur Entfaltung bringen. Dies sind souveräne, solidarische und selbstbestimmte Lebensmodelle und Partnerschaften im privaten, wirtschaftlichen und politischen Kontext. Eine Annäherung an diese Vision kann nur gemeinsam gelingen – mit allen, die sich, unabhängig von ihrem Geschlecht, hierfür stark machen. 

Für die Vielfalt der Geschlechter

Wir erkennen die Vielfalt der Geschlechter an und distanzieren uns von dem Gedanken eines binären Geschlechtersystems. Nach aktuellem Forschungsstand der Biologie gibt es weit mehr als nur zwei Geschlechter. Auch die zweigeteilten gesellschaftlichen Vorstellungen von „Männern“ und „Frauen“, davon, wie sie sind und wen sie lieben, bilden die Realität nicht ab. Geschlechtliche Lebenswirklichkeiten sind viel diverser. Zweigeschlechtliche Cis- und Heteronormen sind trotzdem weiterhin wirksam und auch machtvoll. Daher wollen wir versuchen, diesen Umstand mitzudenken, ihn gleichzeitig zu hinterfragen und aufzubrechen, wo wir können.      

Auch sprachlich möchten wir die Vielfalt der Geschlechter abbilden. In unseren Texten verwenden wir eine gendersensible Schreibweise. Sie soll irritieren, indem sie zweigeteilten männlich/weiblich Sprachformen entgegensteht. Wir wollen durch sie möglichst viele Geschlechter repräsentieren und ansprechen. 

Unsere Projektarbeit nimmt fast ausschließlich Frauen in den Blick. Dieser Fokus ergibt sich aus der Einsicht, dass Frauen von den negativen Auswirkungen globalen Wirtschaftens besonders betroffen sind. Unsere Expertise besteht seit vielen Jahren darin, auf diesen Umstand aufmerksam zu machen und von Wirtschaft und Politik Veränderungen zu fordern. Darüber hinaus ist uns bewusst, dass auch queere und trans Personen wirtschaftsbezogene Menschenrechtsverletzungen erfahren, die wir nicht tolerieren dürfen.

Unsere Mitgliederpolitik sieht nur Frauen als aktive Mitglieder vor. Der Grund hierfür ist der Gedanke eines Schutzraumes. Wir sehen hierin die Chance, Agenda und Visionen des Vereins von Frauen für Frauen zu bestimmen. Wir glauben daran, dass auch Männer Feminist*innen sein können und wissen, dass „Frauen-Räume“ keine machtfreien Räume sind. Doch sie bieten uns Schutz- und Freiraum, uns jenseits sexistischer Erfahrungen zu engagieren und ohne projizierte Geschlechterbilder freier und selbstbestimmt zu diskutieren und zu agieren. Die Widersprüche zwischen einer grundsätzlichen Anerkennung von geschlechtlicher Vielfalt und der gleichzeitigen Fokussierung auf Frauen müssen wir dabei aushalten. Unter unseren Mitgliedern und auch in Vorstand und Team gibt es unterschiedliche Sichtweisen zur Frage, ob auch Männer aktive Mitglieder in unserem Verein sein können. Wir bleiben dazu im Gespräch und verstehen diese Diskussionen als einen andauernden Reflexionsprozess.

Für Engagement in Solidarität

FEMNET zeigt die vielen Gesichter der Ungleichheit vehement und unablässig auf. Dabei machen wir uns insbesondere für die Rechte von Frauen im Arbeitsleben stark. Unseren Schwerpunkt setzen wir auf die Solidarität mit Textilarbeiterinnen, derzeit vor allem in den südasiatischen Ländern Indien und Bangladesch. Die Textil- und Bekleidungsproduktion zählt in diesen Ländern zu den größten Wirtschaftszweigen; Beschäftigte sind in der Mehrheit Frauen. Arbeiterinnen sind zumeist mehrfach benachteiligt – durch die ausbeuterischen Arbeitsverhältnisse in der Produktion und durch Mechanismen patriarchaler Unterdrückung. Aktivist*innen vor Ort kämpfen seit Jahrzehnten gegen diese Strukturen. FEMNET unterstützt sie solidarisch in diesem Kampf.

Dieses solidarische Engagement findet in einer von Rassismus geprägten Welt statt. Patriarchale und rassistische Strukturen reichen bis lange vor der kolonialistischen Ausbeutung vieler Regionen zurück. Jedoch wirken zahlreiche während des Kolonialismus geschaffenen Strukturen bis heute nach, sodass unsere globalisierten und kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen davon nachhaltig geprägt sind. Bis heute besteht ein Gefälle zwischen globalem Norden und globalem Süden, durch das Ungerechtigkeiten und ausbeuterische Mechanismen fortgetragen werden. Zu nennen sind hier etwa die unwiederbringliche Ausbeutung lokaler Ressourcen oder das omnipräsente Lohndumping zum Profit der Auftraggeber aus dem Norden (und seiner Kund*innen).

An vielen Orten weltweit riskieren Frauen ihr Leben, indem sie sich für ihre Rechte einsetzen. Wir fordern, dass sich Staaten und Unternehmen für die Stärkung von Frauenrechten als Menschenrechte einsetzen und Strukturen schaffen, die die rechtliche und gesellschaftliche Gleichstellung der Geschlechter gewährleisten.

Auch in Deutschland solidarisieren wir uns mit Arbeitskämpfen, die feministische Ideale vertreten. Wir sind mit Frauen- und feministischen Organisationen bundesweit vernetzt, die für mehr Geschlechtergerechtigkeit einstehen. Wir haben beispielsweise gemeinsam mit zahlreichen zivilgesellschaftlichen Organisationen das Equal-Care-Manifest unterzeichnet, welches eine faire Verteilung von Care-Arbeit fordert. Ausbeuterische und prekäre Arbeitsverhältnisse, die insbesondere Frauen benachteiligen, müssen ein Ende haben.  

Für all diese Ziele braucht feministische Arbeit wirksame Instrumente und engagierte Aktive. Es braucht eine offene, selbstkritische Auseinandersetzung. Es braucht Vernetzung und Solidarität in gemeinsamen Kämpfen. Wir wollen einen Feminismus leben, der auf Selbstbestimmung, Souveränität, Kritikfähigkeit und Solidarität setzt. Dieser Feminismus ist unsere Maxime für soziale Gerechtigkeit und ein respektvolles Miteinander: im Privaten wie im Beruflichen, im sozialen wie im politischen Engagement, und natürlich weltweit.

Stand: März 2021

 

 

Jetzt spenden