INDIEN

1,4 Milliarden Einwohner*innen
45 Millionen Beschäftigte in der Textilindustrie

Im Profil: Indiens Bekleidungsindustrie

Die Textilindustrie ist eine der ältesten Industrien in Indien. Aufgrund der Vielfalt pflanzlicher Rohstoffe wie Baumwolle, Wolle, Seide und Jute sowie des Überangebots an billigen Arbeitskräften entwickelte sie sich zu einer der wichtigsten Säulen der indischen Wirtschaft. Dabei sind es überwiegend Frauen, die auf Baumwollfeldern, in Spinnereien und Nähfabriken für niedrige Löhne beschäftigt sind.

Indien in Zahlen

  • Bevölkerung (2024): 1,4 Milliarden[i]
  • Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie (2022): ca. 45 Millionen[ii], davon ca. 60-70 Prozent Frauen[iii]
  • Gesetzlicher Mindestlohn (2024): zwischen 107,76 €/Monat (9.875 INR) und 114,73 €/Monat (10.514 INR)[iv](Lohn basierend auf dem Bundesstaat Tamil Nadu, es gibt regionale Anpassungen)
  • Existenzsichernder Lohn laut Asia Floor Wage (2022): 33.920 INR/Monat (ca. 369 €/Monat)[v]
  • Sechstgrößter Exporteur von Textilien und Bekleidung (2023)[vi]
  • Zweitgrößter Baumwollproduzent der Welt (2023)[vii]

Mit der Verlagerung der Textil- und Bekleidungsproduktion nach Asien, verabschiedeten die Industrieländer das „Multi-Fiber Arrangement“ (MFA), welches den Export von Bekleidung in westliche Länder einschränkte und so die europäische Bekleidungsproduktion vor billiger Konkurrenz aus Asien schützte. Das MFA endete 2004, woraufhin die Exporte aus Bangalore nach Europa und in die USA stark zunahmen. Dies führte zu einem Boom in der Bekleidungsindustrie.

Viele Frauen aus ländlichen Gebieten kamen auf der Suche nach Arbeit in die Textilfabriken der Metropolen. Heute ist Indien einer der größten Bekleidungsproduzenten für westliche Länder und der sechstgrößte Textilexporteur der Welt. Städte wie Delhi, Mumbai, Tiruppur, Chennai und Bangalore gehören zu den größten Baumwollproduzenten der Welt. Laut dem Bericht „Prospects for the Textile and Clothing Industry in India, 2022“ beträgt der Anteil der Bekleidungsindustrie an den Exporterlösen etwa 10 Prozent.[viii] Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist nach Landwirtschaft und Bauwesen der drittgrößte Arbeitgeber des Landes und beschäftigt rund 45 Millionen Menschen.[ix]

Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie

Der Konkurrenz- und Preisdruck unter den Unternehmen hat starke Auswirkungen auf die Mitarbeiter*innen. Die Arbeitsbelastung ist aufgrund des Termindrucks und der ehrgeizigen Produktionsziele sehr hoch. Überstunden und Krankheitstage werden selten bezahlt, Belästigungen am Arbeitsplatz sind keine Seltenheit. Viele Arbeiter*innen verdienen weniger als der gesetzliche Mindestlohn es vorschreibt. Die Mehrheit der Beschäftigten sind Frauen: Der Frauenanteil liegt im Durchschnitt bei 70 Prozent[x], variiert jedoch zwischen ca. 60 Prozent im Norden und ca. 80 Prozent im Süden, im Hotspot Bangalore sogar bei rund 90 Prozent. Insbesondere in Nordindien sind Frauen aus kulturellen Gründen weitestgehend vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen. Sie gelten als weniger produktiv als Männer und werden typischerweise in ungelernte Positionen mit den niedrigsten Löhnen eingestellt.

Näherinnen in einer Fabrik in Bangalore, 2019. © FEMNETNäherinnen in einer Fabrik in Bangalore, 2019. © FEMNET

Wenn die Wirtschaft schlecht läuft, sind sie die Ersten, die ihren Job verlieren. Führungspositionen sind Männern vorbehalten. Gewalt am Arbeitsplatz ist in der indischen Bekleidungsindustrie weit verbreitet. Ein Bericht der International Labour Organisation (ILO) aus dem Jahr 2022 fand heraus, dass mehr als jede*r fünfte Beschäftigte (fast 23 Prozent) am Arbeitsplatz Gewalt und Belästigung erlebt hat - sei es physisch, psychisch oder sexuell.[xi] Im Süden arbeiten hauptsächlich Frauen aus ländlichen Gegenden oder Stammesgebieten Indiens. Migrant*innen werden bevorzugt angestellt, denn es mangelt der Industrie an billigen Arbeitskräften. Der Anteil der in der Bekleidungsindustrie beschäftigten innerstaatlichen Arbeitsmigrant*innen und Zeitarbeiter*innen stieg in den letzten Jahren stark an.[xii]

Eine moderne Form der Sklaverei findet man bis heute im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Dort gibt es ca. 2.200 Spinnereien mit rund 250.000 jungen Frauen als Beschäftigte. 80 % davon werden in sogenannter „Camp Labour“ ausgebeutet, früher als „Sumangali“-System bezeichnet. Rund 20 % der Fabriken arbeiten ohne solche Zwangsarbeit. Einige wenige davon gehören der Regierung, die die Frauen auch besser bezahlt. Insgesamt wird die Zahl der Zwangsarbeiter*innen in Indien auf rund 8 Millionen geschätzt.[xiii]

Arbeiterin in einer indischen Spinnerei, 2019. © FEMNETArbeiterin in einer indischen Spinnerei, 2019. © FEMNET

Eine im Jahr 2024 veröffentlichte Studie untersuchte die Arbeitsrechtsverletzungen im Rahmen des sogenannten „Mutated Sumangali Scheme“, einer neuen Form des Sumangali-Systems. Im Zuge der Studie wurden Interviews mit Arbeiter*innen in drei zufällig ausgewählten Bezirken in Tamil Nadu geführt. Die Ergebnisse der Interviews zeigten, dass in den Spinnereien weiterhin Mindestlöhne verweigert werden, unsichere Arbeitsbedingungen herrschen, die Arbeitszeiten verlängert und Überstunden erzwungen werden. Zudem wurden Jahresurlaub, Krankheitsurlaub, wöchentlicher Urlaub und Prämienzahlungen verweigert, während die Arbeitszeiten der Nachtschicht ebenfalls verlängert wurden.[xiv]

Mindestlöhne unterhalb der Existenzsicherung

Der gesetzliche Mindestlohn für den Bekleidungssektor wird zentral in Indien festgelegt. Darüber hinaus nehmen die Bundesstaaten lokale Anpassungen vor. IndustriAll zufolge, verdienen Textilarbeiter*innen in Tamil Nadu derzeit (2024) zwischen 9.875 (107,76 €) und 10.514 (114,73 €) indischen Rupien pro Monat. Mit der Einführung des neuen Mindestlohns, dessen Startzeitraum nicht klar definiert ist, werde der Monatslohn jedoch zwischen 15.211 (165,94 €) und 16.379 (178,68 €) indischen Rupien liegen. Laut Asia Floor Wage lag der existenzsichernde Lohn im Jahr 2022 bereits bei 33.920 indischen Rupien/Monat (was 08/2024 ca. 369 € entspricht).[xv] Das geschlechtsspezifische Lohngefälle (Gender Pay Gap) in der indischen Bekleidungsindustrie beträgt etwa 32 Prozent.[xvi]

Stiller Protest der Frauengewerkschaft GLU am Weltfrauentag 2017. © GLU/Munnade  Stiller Protest der Frauengewerkschaft GLU am Weltfrauentag 2017. © GLU/Munnade

Gewerkschaftsfeindliches Klima

Die meisten Arbeitgeber*innen verbieten noch immer Gewerkschaften und jegliche Form der Organisation in der Fabrik. Somit haben die Arbeiter*innen nur wenige Möglichkeiten, um sich gegen Arbeitsrechtsverletzungen zu wehren. Nur fünf Prozent der indischen Textilarbeiter*innen gehören einer Gewerkschaft an.[xvii] Viele fühlen sich von ihrem Management eingeschüchtert und haben Angst, entlassen zu werden, wenn sie sich in einer Gewerkschaft organisieren. Auch Arbeiter*innenkomitees, welche gesetzlich verpflichtend sind, existieren meist nur auf dem Papier. Nur vereinzelt kam es bisher zu Protesten und Streiks von Arbeiter*innen, jedoch endeten alle in Gewalt, und Festnahmen durch die Polizei.[xviii] Gerade die Belange von Frauen - Diskriminierung, Belästigung, Mutterschutz und eine angemessene Kinderbetreuung durch den Arbeitgeber - werden dadurch oftmals systematisch ignoriert.

Fabrikarbeiterinnen in Bangalore 2015 © FEMNETFabrikarbeiterinnen in Bangalore 2015 © FEMNET

Frauenrechte

Während Frauenrechte und Geschlechtergleichstellung in Indien offiziell anerkannt sind, sehen sich Frauen in der Realität weit verbreiteter Diskriminierung ausgesetzt. Die Diskriminierung erfolgt nicht nur aufgrund ihres Geschlechts, sondern auch basierend auf ihrer Kaste, Klasse, sexueller Orientierung oder Traditionen.[xix] Dies liegt insbesondere an den noch immer vorherrschenden patriarchalischen sozialen Normen, die in Nordindien besonders ausgeprägt sind. Die überwältigende Bevorzugung von Jungen und Männern in der indischen Gesellschaft hat zu tief verwurzelten Praktiken der Diskriminierung und Gewalt gegen Mädchen und Frauen geführt, die ihren Status, ihre Gesundheit und ihre Entwicklung beeinträchtigen. In ärmeren Familien bedeutet dies auch, dass Frauen weniger Zugang zu Essen und sanitären Einrichtungen haben. 27 Prozent der Mädchen[xx] sind vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet. Vergewaltigung in der Ehe ist kein Verbrechen. Der Druck, einen Jungen zur Welt zu bringen, ist hoch: Die hohe Abtreibungsrate weiblicher Föten spiegelt sich im Geschlechterverhältnis von 942 Frauen zu 1000 Männern wider.[xxi]

Zum Schichtende strömen hunderte Menschen gleichzeitig aus den Fabriken, die meisten von ihnen Frauen. © FEMNETZum Schichtende strömen hunderte Menschen gleichzeitig aus den Fabriken, die meisten von ihnen Frauen. © FEMNET

Im Jahr 2013 wurde in Indien ein Gesetz verabschiedet, das sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz verbietet. Sie laufen jedoch auch Gefahr, auf dem Heimweg belästigt oder überfallen zu werden, insbesondere wenn sie nachts arbeiten müssen.[xxii] Dennoch werden die dafür vorgesehenen Maßnahmen wie Trainings und Beschwerdekomitees in Fabriken bis heute nur spärlich umgesetzt.[xxiii] Auch der rechtliche Anspruch von Frauen auf Mutterschutz wird in vielen Fabriken umgangen: Schwangere Frauen berichten von Belästigungen und hohem sozialen Druck, die sie zur Kündigung zwingen, oder von illegal aufgelösten Arbeitsverhältnissen.[xxiv]

Kinderarbeit

Die Gesamtzahl der arbeitenden Kinder im Alter von 6 bis 13 Jahren in Indien macht 3,48 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.[xxv] Viele von ihnen sind den schlimmsten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt. Kinder aus ländlichen Gebieten mit wenig Bildung, aus niedrigen Hindu-Kasten, Stammesgemeinschaften und religiösen Minderheiten sind Opfer von Kinderhandel, Zwangsarbeit und sexueller Ausbeutung. Mit der Aussicht auf Arbeit werden sie in die Bekleidungsfabriken, Spinnereien und Baumwollfarmen gelockt, wo sie schließlich unter gefährlichen Arbeitsbedingungen für wenig oder keinen Lohn arbeiten müssen.[xxvi]

Zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz führten unsere Partnerorganisationen vor Ort Interviews mit Textilarbeiterinnen. September 2018. Bangalore. Foto: © CividepZum Thema geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz führten unsere Partnerorganisationen vor Ort Interviews mit Textilarbeiterinnen. September 2018. Bangalore. Foto: © Cividep

Mangelnde Durchsetzung von Rechten

Das indische Rechtssystem enthält eine Vielzahl von Schutzmaßnahmen. Das Land hat sechs der acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert; die zwei ausstehenden sind Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen.[xxvii] Je weiter man jedoch in der Lieferkette vordringt, desto weniger Transparenz gibt es und umso mehr Ausbeutung. Das Problem liegt in erster Linie in der mangelnden Durchsetzung von Recht durch die Behörden und dem ausbleibenden wirksamen Rechtsschutz für die Betroffenen. Ein Mangel an Kontrollen, schlecht entwickelte rechtsstaatliche Strukturen, Korruption und Vetternwirtschaft sind weit verbreitet.[xxviii]

Weiterführende Studien

 

Aktuelle Nachrichten aus Indien

 

Quellen

[i] https://www.macrotrends.net/countries/IND/india

[ii] https://theprint.in/macrosutra/why-indias-critical-textile-sector-employing-4-5-crore-people-is-facing-challenges/1299489/

[iii] https://timesofindia.indiatimes.com/blogs/voices/textile-industry-supporting-indian-employment/

[iv] https://www.industriall-union.org/indian-garment-workers-protest-delay-in-wage-increase

[v] https://asia.floorwage.org/living-wage/calculating-a-living-wage/

[vi] https://www.businesswire.com/news/home/20230113005327/en/India-Textile-and-Clothing-Industry-Prospects-Report-2022-Developments-Size-and-Structure-Textile-and-Clothing-Production-and-Consumption---ResearchAndMarkets.com

[vii] https://worldpopulationreview.com/country-rankings/cotton-production-by-country

[viii] https://www.businesswire.com/news/home/20230113005327/en/India-Textile-and-Clothing-Industry-Prospects-Report-2022-Developments-Size-and-Structure-Textile-and-Clothing-Production-and-Consumption---ResearchAndMarkets.com

[ix] https://www.reuters.com/world/india/indias-textile-industry-faces-tough-times-consumers-cut-spending-2022-12-16/

[x] Indian Ministry of Trade and Industry Initiative: (accessed 16-02-2023)

[xi] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---dgreports/---dcomm/documents/publication/wcms_863095.pdf

[xii] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xiii] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xiv] Valan A, Akanksha Jumde & Nishant Kumar (2024) “Mutated Sumangali Scheme”: challenges in enforcement of labour laws in spinning mills of Tamil Nadu, Indian Law Review, 8:2, 170-184, https://doi.org/10.1080/24730580.2024.2353529.

[xv] https://asia.floorwage.org/living-wage/calculating-a-living-wage/ and https://www.businesswire.com/news/home/20230113005327/en/India-Textile-and-Clothing-Industry-Prospects-Report-2022-Developments-Size-and-Structure-Textile-and-Clothing-Production-and-Consumption---ResearchAndMarkets.com

[xvi] https://www.ilo.org/wcmsp5/groups/public/---asia/---ro-bangkok/documents/publication/wcms_848624.pdf

[xvii] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xviii] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xix] Fair Wear Foundation (2018): Breaking the silence: The FWF violence and harassment prevention program (PDF file)

[xx] Fair Wear Foundation (2019): FWF Gender Factsheet – India (PDF file)

[xxi] Fair Wear Foundation ( 2019): FWF Gender Factsheet – India (PDF file)

[xxii] Society for Labor and Development (2018): Gender based violence in garment global production networks India

[xxiii] Fair Wear Foundation (2018): Breaking the silence: The FWF violence and harassment prevention program (PDF file)

[xxiv] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xxv] https://educationforallinindia.com/do-we-have-or-not-have-child-labour-in-india-2022/#:~:text=A%20glance%20at%20the%20percentage,main%20and%20the%20marginal%20workers

[xxvi]  US Department of Labor (2018): 2018 Findings on the worst forms of child labor (PDF file)

[xxvii] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF file)

[xxviii] Valan A, Akanksha Jumde & Nishant Kumar (2024) “Mutated Sumangali Scheme”: challenges in enforcement of labour laws in spinning mills of Tamil Nadu, Indian Law Review, 8:2, 170-184, https://doi.org/10.1080/24730580.2024.2353529.

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