INDIEN

1,3 Milliarden Einwohner_innen
45 Millionen Beschäftigte in der Textilindustrie

Im Profil: Indiens Bekleidungsindustrie

Die Textilindustrie ist einer der ältesten Wirtschaftszweige Indiens. Durch die Vielfalt pflanzlicher Rohstoffe wie Baumwolle, Wolle, Seide und Jute, sowie dem Überangebot an billigen Arbeitskräften, wurde die Textilindustrie zu einer wichtigen Stützen der indischen Wirtschaft. Mehrheitlich sind es Frauen, die auf Baumwollfeldern, in Spinnereien und Nähereien zu Niedriglöhnen angestellt werden.

Indien in Zahlen

  • Bevölkerung 1,3 Milliarden[iv]
  • Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie: ca. 45 Millionen, davon ca. 70 % Frauen (2019) und ca. 5 % Gewerkschaftsmitglieder
  • Gesetzl. Mindestlohn: ca. 131 €/Monat (zzgl. regionale Anpassungen) (2019)
  • Existenzlohn lt. Asia Floor Wage: ca. 300 €/Monat (2017)
  • Zweitgrößter Exporteur für Textilien & Bekleidung (2019)
  • Weltgrößter Produzent von Baumwolle (2019

Als sich die Produktion von Kleidung mehr und mehr nach Asien verlagerte, verabschiedeten die Industrieländer das "Multi Fiber Arrangement" (MFA), das den Export von Kleidung in westliche Länder einschränkte und so die europäische Bekleidungsproduktion gegen die Billigkonkurrenz aus Asien schützte. Das MFA endete 2004 und Exporte aus Bangalore nach Europa und USA nahmen daraufhin stark zu. Dies führte zu einem Boom der Bekleidungsindustrie und viele Frauen vom Land kamen auf der Suche nach Arbeit in die Textilfabriken der Ballungszentren.

Heutzutage ist Indien als zweitgrößter Textilexporteur weltweit einer der größten Produzenten von Kleidung für westliche Länder. Vor allem die Städte Delhi, Mumbai, Tirupur, Chennai und Bangalore sind wichtige Standorte von wichtiger Bedeutung.[i] Indien ist der weltgrößte Produzent von Baumwolle, wovon jedoch ca. 95 % genmanipuliert sind.[ii] Der Anteil der Bekleidungsindustrie an den Exporteinnahmen beträgt ca. 15 %.[iii]

Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie

Der Wettbewerbs- und Preisdruck unter Firmen wirkt sich stark auf die Beschäftigten aus. Das Arbeitspensum ist durch den Termindruck und die ambitionierten Produktionsziele sehr hoch, Überstunden und Krankheitstage werden selten bezahlt und Belästigungen am Arbeitsplatz kommen häufig vor. Viele Arbeiter*innen bekommen noch nicht einmal den von der Regierung festgesetzten Mindestlohn ausgezahlt.

Näherinnen in einer Fabrik in Bangalore, 2019. © FEMNETNäherinnen in einer Fabrik in Bangalore, 2019. © FEMNET

Die Textil- und Bekleidungsindustrie ist nach der Landwirtschaft und dem Baugewerbe der drittgrößte Arbeitgeber des Landes und beschäftigt rund 45 Millionen Menschen.[1] Die Mehrheit der Beschäftigten ist weiblich: Der Frauenanteil, durchschnittlich 70 %[2], variiert zwischen ca. 60 % im Norden und ca. 80 % im Süden, im Hotspot Bangalore sind es sogar rund 90 %.

Besonders im Norden Indiens sind Frauen kulturell bedingt weitgehend ausgeschlossen vom sozialen Leben. Sie gelten als weniger produktiv als Männer und werden typischerweise in ungelernten Positionen angestellt, welche am niedrigsten vergütet werden. Bei schlechter wirtschaftlicher Lage sind sie die ersten, die ihre Jobs verlieren. Managerpositionen sind Männern vorbehalten. In Bangalore gaben 2016 etwa 60 % der Textilarbeiterinnen an, bereits physische oder psychische Gewalterfahrungen am Arbeitsplatz erlebt zu haben, wie Beschimpfungen, Drohungen, sexueller Belästigung oder Übergriffen.[3]

Im Süden arbeiten hauptsächlich Frauen aus ländlichen Gegenden oder Stammesgebieten Indiens. Migrant*innen werden bevorzugt angestellt, denn es mangelt der Industrie an billigen Arbeitskräften. Der Anteil der in der Bekleidungsindustrie beschäftigten innerstaatlichen Arbeitsmigrant*innen und Zeitarbeiter*innen stieg in den letzten Jahren stark an.[4]

Arbeiterin in einer indischen Spinnerei, 2019. © FEMNETArbeiterin in einer indischen Spinnerei, 2019. © FEMNET

Eine moderne Form der Sklaverei findet man bis heute im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Dort gibt es ca. 2.200 Spinnereien mit rund 250.000 jungen Frauen als Beschäftigte. 80 % davon werden in sogenannter „Camp Labour“ ausgebeutet, früher als „Sumangali“-System bezeichnet. Rund 20 % der Fabriken arbeiten ohne solche Zwangsarbeit. Einige wenige davon gehören der Regierung, die die Frauen auch besser bezahlt. Insgesamt wird die Zahl der Zwangsarbeiter*innen in Indien auf rund 8 Millionen geschätzt.[5]

Mindestlöhne unterhalb der Existenzsicherung

Der gesetzliche Mindestlohn für den Bekleidungssektor wird in Indien zentral vorgegeben. Zusätzlich nehmen die Bundesstaaten lokale Anpassungen vor. 2019 betrug er ca. 10.300  indische Rupien/Monat (ca. 131 Euro), wohingegen ein Lohn zum Leben laut Asia Floor Wage schon 2017 bei rund 23.600 indischen Rupien/Monat (ca. 300 Euro) lag.[6] Der Gender Pay Gap (geschlechtsspezifischer Gehaltsunterschied) in der indischen Bekleidungsindustrie beträgt etwa 39 %.[7]

Gewerkschaftsfeindliches Klima

Stiller Protest der Frauengewerkschaft GLU am Weltfrauentag 2017. © GLU/Munnade  Stiller Protest der Frauengewerkschaft GLU am Weltfrauentag 2017. © GLU/Munnade

Die meisten Arbeitgeber verbieten noch immer Gewerkschaften und jede Form der Organisation in der Fabrik, sodass die Arbeiter*innen kaum Möglichkeiten haben, sich gegen Arbeitsrechtverletzungen zur Wehr zu setzen. Nur 5 % der indischen Textiliarbeiter*innen gehören einer Gewerkschaft an.[8] Viele fühlen sich von ihrem Management eingeschüchtert und haben Angst entlassen zu werden, falls sie sich in einer Gewerkschaft organisieren. Auch Arbeiterkomitees, welche gesetzlich verpflichtend sind, existieren meist nur auf dem Papier. Nur vereinzelt kam es bisher zu Protesten und Streiks von Arbeitern, jedoch endeten alle in Gewalt, und Festnahmen von Arbeitern durch die Polizei.[9][10] Gerade die Belange von Frauen - Diskriminierung, Belästigung, Mutterschutz und eine angemessene Kinderbetreuung durch den Arbeitgeber - werden dadurch oftmals systematisch ignoriert.

Frauenrechte

Fabrikarbeiterinnen in Bangalore 2015 © FEMNETFabrikarbeiterinnen in Bangalore 2015 © FEMNET

Während die Rechte von Frauen und die Gleichberechtigung der Geschlechter in Indien offiziell anerkannt sind, werden Frauen in der Realität weitgehend diskriminiert. Diskriminierung erfolgt nicht nur auf Basis ihres Geschlechts, sondern auch aufgrund ihrer Kaste, Klasse, sexueller Orientierung oder Traditionen.[11] Dies ist insbesondere auf die immer noch vorherrschenden patriarchischen Sozialnormen zurückzuführen, welche vor allem im Norden Indiens stark ausgeprägt sind. Die enorme Bevorzugung von Jungen in der indischen Gesellschaft hat zu tiefverwurzelten Diskriminierungspraktiken und Gewalt gegen Mädchen und Frauen geführt, mit Auswirkungen auf ihren Status, ihre Gesundheit und ihre Entwicklung. In ärmeren Familien bedeutet dies zudem, dass Frauen weniger Zugang zu Essen und sanitären Einrichtungen haben. 27% der Mädchen[12] werden vor ihrem 15. Geburtstag verheiratet. Vergewaltigung innerhalb der Ehe ist kein Verbrechen. Der Druck, einen Jungen zu gebären, ist hoch: Die hohe Abtreibungsrate von weiblichen Föten spiegelt sich im Geschlechtermissverhältnis von 942 Frauen auf 1000 Männer.[13]

Zum Schichtende strömen hunderte Menschen gleichzeitig aus den Fabriken, die meisten von ihnen Frauen. © FEMNETZum Schichtende strömen hunderte Menschen gleichzeitig aus den Fabriken, die meisten von ihnen Frauen. © FEMNET

2013 wurde in Indien ein Gesetz verabschiedet, welches sexuelle Belästigung von Frauen am Arbeitsplatz verbot. Auch auf dem Heimweg laufen sie Gefahr, belästigt oder überfallen zu müssen, besonders wenn sie nachts arbeiten müssen.[14] Dennoch werden die dafür vorhergesehenen Maßnahmen wie Trainings und Beschwerdekomitees in Fabriken bis heute nur spärlich umgesetzt.[15] Auch der rechtliche Anspruch von Frauen auf Mutterschutz wird in vielen Fabriken umgangen: Schwangere Frauen berichten von Belästigungen und hohem sozialen Druck, die sie zur Kündigung zwingen, oder von illegal aufgelösten Arbeitsverhältnissen.[16]

Kinderarbeit

Die Zahl der Kinderarbeiter*innen im Alter von 5 bis 14 Jahre wird in Indien insgesamt auf 8,2 Millionen geschätzt.[17] Vielen von ihnen sind schwersten Formen der Kinderarbeit ausgesetzt. Meist werden Kinder aus ländlichen Gegenden mit geringer Bildung, aus niedrigen Hindu Kasten, Stammesgemeinschaften und religiöse Minderheiten Opfer von Kinderhandel, Zwangsarbeit und sexueller Ausbeutung. Mit der Aussicht auf Arbeit werden sie in die Bekleidungsfabriken, Spinnereien sowie den Baumwollanbau gelockt, in welchen sie schlussendlich gezwungen werden, für wenig oder gar kein Geld unter gefährlichen Arbeitsbedingungen zu arbeiten.[18]

Zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz führten unsere Partnerorganisationen vor Ort Interviews mit Textilarbeiterinnen. September 2018. Bangalore. Foto: © CividepZum Thema geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz führten unsere Partnerorganisationen vor Ort Interviews mit Textilarbeiterinnen. September 2018. Bangalore. Foto: © Cividep

Mangelnde Durchsetzung von Rechten

Die rechtliche Situation ist in Indien nicht einmal schlecht: Die indische Rechtsordnung enthält eine Vielzahl von Schutzmaßnahmen. Das Land hat sechs der acht ILO-Kernarbeitsnormen ratifiziert; die zwei ausstehenden sind Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen.[19]

Je weiter man jedoch in der Lieferkette vordringt, desto weniger Transparenz gibt es und umso mehr Ausbeutung. Das Problem liegt vor allem in der mangelnden Durchsetzung von Recht durch die Behörden und einem fehlenden wirksamen Rechtsschutz für die Betroffenen. Mangelnde Kontrollen, schwach ausgebildete Rechtsstaatsstrukturen, Korruption und Vetternwirtschaft sind weit verbreitet.[20]

 

Weiterführende Studien

 

Aktuelle Nachrichten aus Indien

 

Quellen

[i] Kampagne für Saubere Kleidung: Indien (abgerufen am 13.11.2019)
[ii] Initiative des indischen Ministeriums für Handel und Industrie: (abgerufen am 13.11.2019)
[iii] Initiative des indischen Ministeriums für Handel und Industrie: (abgerufen am 13.11.2019)
[iv] https://population.un.org/wpp/DataQuery/ (abgerufen am 13.11.2019)
[1] Initiative des indischen Ministeriums für Handel und Industrie (abgerufen am 13.11.2019)
[2] UNDP (2018): Human Development Indices and Indicators (PDF-Datei) 
[3] Sisters for Change (2016): Eliminating violence against women at work (PDF-Datei)
[4] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[5] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[6] Asia Floor Wage Alliance (abgerufen am 06.02.2020)
[7] International Labour Organization (2016): Assessing the gender pay gap in Asia’s garment sector (PDF-Datei)
[8] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[9] Kampagne für Saubere Kleidung: Indien (abgerufen am 13.11.2019)
[10] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[11] Fair Wear Foundation (2018): Breaking the silence: The FWF violence and harassment prevention program (PDF-Datei)
[12] Fair Wear Foundation (2019): FWF Gender Factsheet – India (PDF-Datei)
[13] Fair Wear Foundation (2019): FWF Gender Factsheet – India (PDF-Datei)
[14] Society for Labour and Development (2018): Gender based violence in garment global production networks India
[15] Fair Wear Foundation (2018): Breaking the silence: The FWF violence and harassment prevention program (PDF-Datei) Status: 23.11.2019
[16] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[17] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[18] U.S. Department of Labor (2018): 2018 Findings on the worst forms of child labor (PDF-Datei)
[19] Fair Wear Foundation (2019): India country study 2019 (PDF-Datei)
[20] Textilbündnis (2019): Faltblatt „Bündnisinitiative Tamil Nadu“ (PDF-Datei)

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