Nachrichten zu unserer Arbeit - Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz © UN Women/Fahad Abdullah Kaizer via Flickr. Rechtsverbindliche Markenvereinbarungen – die Lösung für das Problem? Gastbeitrag: Dieser Artikel erschien im englischen Original am 18. Januar 2024 auf LSE International Blog. Autorin: Pauline Jerrentrup Die Doktorandin Pauline Jerrentrup erforscht, ob rechtsverbindliche Markenvereinbarungen die Lösung für die Ausbeutung von Arbeitnehmer*innen in Zulieferländern darstellen. An einem sonnigen Oktobermorgen trifft ein angesehener internationaler Schlichter mit mir in einem Café an der Cornell University zusammen - eine Person, mit der ich mich „vernetzen" soll und die mich leicht einschüchtert. Lastwagen fahren vorbei, es ist laut, und ich bereue es, diesen Ort vorgeschlagen zu haben. Wir sprechen etwas lauter. „Das System ist kaputt", behauptet er. Globale Wertschöpfungsketten nutzen Arbeiter*innen aus. Arbeiter*innen, insbesondere Frauen, werden für uns ausgebeutet, damit wir ein 5,99 £ T-Shirt kaufen können. Gut für uns, gut für die Marken und daher unwahrscheinlich zu ändern. Nach allem, was er gesehen hat, sind „rechtsverbindliche Abkommen die einzige Hoffnung, die einzige Lösung". Schlichter vermitteln zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern und greifen ein, wenn Konflikte ernst werden. Mein Gesprächspartner hat viel gesehen. Sind rechtsverbindliche Abkommen also die Lösung? Patriarchale Strukturen am Arbeitsplatz – die Realität für Frauen in globalen Produktionsstätten Beginnen wir mit dem Problem. Das Modell der globalen Wertschöpfungskette beruht auf der Ausbeutung von billiger und flexibler Arbeitskraft, wobei große Marken mit Hauptsitz in Städten wie New York oder London Produkte aus schlecht regulierten, kostengünstigen Volkswirtschaften beziehen. Männer und Frauen, die begrenzte Beschäftigungsalternativen haben, ertragen ausbeuterische Bedingungen, einschließlich übermäßiger Arbeitsstunden und Armutslöhnen. Diese Situation trifft Frauen (zu unserer großen Überraschung) härter. In Textilfabriken, in denen Manager und Vorgesetzte größtenteils Männer sind, nehmen Frauen niederrangige Positionen ein. Sie stehen prekärsten Arbeitsbedingungen gegenüber, müssen tägliche Produktionsquoten erfüllen und haben oft keinen Arbeitsvertrag, welcher grundlegende Arbeitsrechte gewährleisten könnte. Ihre Gefährdung wird durch sich überschneidende Faktoren wie ihr Migrationsstatus, eine alleinerziehende Mutterschaft und andere Umstände weiterhin verschärft. Diese stark geschlechtsspezifisch geprägten Betriebe in patriarchalen Gesellschaften begünstigen ein gewalttätiges Arbeitsumfeld, in welchem verbale, oft sexualisierte Beschimpfungen eingesetzt werden, um die Produktivität zu „motivieren", wie eine Studie über Textilarbeiter*innen in Bangladesch gezeigt hat. Fehlende Arbeitsverträge und Machtasymmetrien ermöglichen es Männern darüber hinaus, „sexuelle Gefälligkeiten" als Voraussetzung für Beschäftigung oder Beförderung zu verlangen (siehe z. B. Berichte aus den Fabriken der Dominikanischen Republik und Lesothos). In den Produktionsländern fehlen die Anreize für eine Verschärfung der Arbeitsgesetze, welche angesichts des Wettbewerbs um ausländische Direktinvestitionen die Arbeitskosten erhöhen würden. Stattdessen haben die Marken als Reaktion auf den Druck der Verbraucher in den 1990er Jahren ihre eigenen privaten Governance-Initiativen eingeführt, meist in Form freiwilliger Verhaltenskodizes und Multistakeholder-Initiativen. Untersuchungen ergeben, dass diese wenig bis keine Auswirkungen hatten, wie Amengual et al.,. und MSI Integrity sowie viele andere zeigen. Menschenrechtsverletzungen am Ende der globalen Wertschöpfungsketten großer Marken bestehen fort - daher das kaputte System. Mit rechtsverbindlichen Markenabkommen geschlechtsspezifische Gewalt bekämpfen Die Untersuchung des Worker Rights Consortium aus dem Jahr 2022 enthüllte geschlechtsbezogene Gewalt in Textilfabriken in Dindigul (Indien) und brachte sie in Verbindungmit dem Tod von Arbeiterinnen, darunter Jeyasre Kathiravel. Sie wurde nach langanhaltender sexueller Belästigung von ihrem Vorgesetzten ermordet. Zu den aus dieser Fabrik beziehenden Marken gehörten H&M, Authentic Brands, Marks & Spencer und Walmart, die alle über einen Verhaltenskodex verfügen und teilweise Partner von Multistakeholder-Initiativen sind. Die anschließende Justice for Jeyasre” Kampagne führte zum sog. Dindigul Agreement, einer rechtsverbindlichen Vereinbarung, die H&M, PVH (Eigentümer von Tommy Hilfiger und Calvin Klein) und GAP sowie die lokale Gewerkschaft Tamil Nadu Textile and Common Labour Union (TTCU), der Lieferant und einige internationalen NGOs unterzeichneten, um geschlechtsbezogene Gewalt und Belästigung zu beenden. Was macht diese „Lösung" besonders? Erstens: rechtsverbindliche Abkommen sind durchsetzbar. Im Gegensatz zu den süßen Versprechungen auf grünen Etiketten eines 5,99 £ T-Shirt, für welche Marken nicht zur Rechenschaft gezogen werden können, sind rechtsverbindliche Abkommen ähnlich wie Tarifverträge. Sie werden durch verbindliche Schiedsverfahren durchgesetzt, bei denen Gewerkschaften als Kontrollmechanismus fungieren können, wie auch Ashwin et al. argumentieren. Zweitens schließen rechtsverbindliche Abkommen Gewerkschaften als gleichberechtigte Partner der Marken ein (mit gleichberechtigtem Vetorecht). Dieser Punkt bezieht sich auf die Kritik an Verhaltenskodizes und multilateralen Initiativen, die top-down verlaufen, losgelöst von der lokalen Gewerkschaftsarbeit und ausgerichtet auf die Interessen der führenden Unternehmen. Gewerkschaften können besonders wichtig sein, wenn es darum geht geschlechtsspezifische Anliegen von Arbeitnehmerinnen zu vertreten. Im Beispiel des Dindigul Agreement wird ersichtlich, dass die Bedürfnisse der Arbeitnehmerinnen von der TTCU, einer reinen Frauengewerkschaft, gut vertreten werden. Die Gewerkschaften sind jedoch in der Regel männlich dominiert und Studien haben häufige Neigungen zu Angeberei und brüderlichen Führungskulturen festgestellt, was zu einem verschachtelten Problem der Vertretung von Frauen in den Gewerkschaften führt (z.B. Bandy & Mendez, 2003). Mit Blick auf durchsetzbare Markenabkommen geht, die speziell mit geschlechtsspezifischen Anliegen in Verbindung stehen, könnte die Geschlechterzusammensetzung von Gewerkschaften daher ein zu berücksichtigender Faktor sein. Drittens verknüpfen rechtsverbindliche Abkommen die Bemühungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen am Arbeitsplatz mit den Einkaufspraktiken der Marken. Im Fall des Dindigul-Abkommens ist beispielsweise H&M verpflichtet, geschäftliche Konsequenzen im Zusammenhang mit seinen Aufträgen zu ziehen, wenn der Lieferant gegen seine Verpflichtungen verstößt, z.B. den Arbeitnehmer*innen keine bezahlte Freistellung zu Teilnahme an Schulungen gewährt. Dies schafft echte Anreize für Zulieferer - im Gegensatz zu freiwilligen Initiativen, bei denen Zulieferer, die sich nicht an die Vorschriften halten, nur selten Konsequenzen befürchten müssen und daher keinen Anreiz haben die Arbeitsbedingungen zu verbessern, wie Amengual et al. und Locke. zeigen. Das Dindigul-Abkommen ist neben dem Lesotho Abkommen eines von zwei Beispielen rechtsverbindlicher Abkommen, welche sich auf die Beendigung von geschlechtsspezifischer Gewalt und Belästigung konzentrieren. Insgesamt gibt es nur wenige Abkommen dieser Art, wobei das „Fair Food Program“ und der International Accord (ehemals Bangladesch-Accord) prominente Beispiele sind. Ein Schritt in die richtige Richtung – mit vielen offenen Fragen Der Schlichter steht an diesem sonnigen Oktobertag mit seiner Hoffnung auf rechtsverbindliche Abkommen nicht allein da. Wissenschaftler betrachten sie zunehmend als einen Weg in die richtige Richtung (z.B. Anner, 2021; Nathan et al., 2022; Reinecke & Donaghey, 2023). Das Interesse der Praktiker an realisierbaren Markenvereinbarungen wächst, angetrieben durch die zunehmenden gesetzlichen Anforderungen an Unternehmen, über ihre Bemühungen im Umgang mit Themen wie geschlechtsspezifische Gewalt, Vereinigungsfreiheit und Tarifverhandlungen innerhalb ihrer Wertschöpfungsketten zu berichten (siehe z.B. das deutsche Sorgfaltspflichtgesetz und die Verhandlungen über die Sorgfaltspflicht im Bereich der Menschenrechte auf EU-Ebene). In Ermangelung der Durchsetzung von Arbeitsnormen in den Produktionsländern können einklagbare Abkommen ein alternativer verbindlicher Mechanismus zur Verbesserung der Arbeitsnormen sein, der durch Gesetze im globalen Norden gefördert wird. Erste Gespräche mit Akteuren, die an den rechtsverbindlichen Abkommen beteiligt sind, deuten jedoch darauf hin, dass die Umsetzung und Skalierbarkeit dieser Vereinbarungen mit Herausforderungen einhergehen. Unabhängige Berichte, insbesondere solche, die sich auf geschlechtsspezifische Aspekte konzentrieren, bleiben nach wie vor äußerst begrenzt. Abgesehen von den theoretischen Versprechungen rechtsverbindlicher Abkommen: Wie sehen sie in der Praxis aus? Was funktioniert, was funktioniert nicht und warum? Sind sie „die Lösung"? Und wenn ja, ist die Lösung skalierbar? Fragen, die ich in meiner Doktorarbeit beantworten und dann an einem weniger lauten Ort mit einem begeisterten Schlichter diskutieren möchte. Die Autorin Pauline Jerrentrup promoviert zum Thema Enforceable Brand Agreements an der London School of Economics. Zuvor hat sie als Nachhaltigkeitsberaterin und Research Consultant gearbeitet. Ihr akademischer Hintergrund umfasst einen Master-Abschluss in Social Innovation and Entrepreneurship sowie einen Master-Abschluss in Research. Der Beitrag basiert auf der Dissertation der Autorin. Er gibt nicht die Ansichten des International Development LSE Blogs, der London School of Economics and Political Science oder des Europäischen Auswärtigen Dienstes wieder. Kategorie: Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz zurück