Tunesien

11,5 Millionen Einwohner_innen
150.000 Beschäftigte in der Textilindustrie

Im Profil: Tunesiens Bekleidungsindustrie

Tunesiens Textilsektor leidet unter dem internationalen Wettbewerb, vor allem mit Niedriglohnländern in Asien. In den letzten 15 Jahren wurden viele Fabriken geschlossen und Arbeiter*innen entlassen. Trotzdem ist die Textilindustrie weiterhin einer der Schlüsselsektoren der tunesischen Wirtschaft und beschäftigt rund ein Drittel aller Industriearbeitskräfte, wobei 86 % der 150.000 Arbeiter*innen Frauen sind.

Tunesien in Zahlen

  • Bevölkerung: 11,5 Millionen (2019)
  • Beschäftigte in der Bekleidungsindustrie: >150.000 (= 1/3 der Industrieangestellten) (2018)
  • Frauenanteil (2013): ca. 86 % (2013)
  • Ca. 1.590 Fabriken (2019)
  • Gesetzlicher Mindestlohn: ca. 560 Dinar/Monat (ca. 175€) (2019)
  • Existenzlohn laut FTDES: >850 Dinar/Monat (ca. 265€) (2016)

Tunesien hat eine lange Tradition in der Textilherstellung und ist nach wie vor eines der wichtigsten Produktionsländer für den europäischen Markt. Tunesien exportiert Modeartikel wie Jeans und T-Shirts aber auch Arbeits- und Schutzkleidung[1]. Die Bekleidungs- und Textilindustrie ist von großer Bedeutung für die tunesische Wirtschaft und für 18,2 % des Bruttoinlandsproduktes in 2019 verantwortlich. Landesweit beschäftigen 1595 Fabriken über 164.000 Personen, das sind rund ein Drittel aller Industriearbeiter*innen[2]. Die meisten von ihnen arbeiten in kleinen oder mittelgroßen Fabriken mit durchschnittlich weniger als 100 Angestellten während jede_r Dritte in einer der wenigen großen Fabriken mit mehr als 300 Angestellten angestellt ist[3].

Kleinere Fabrik (rechts, mit vergitterten Fenstern) liegen oft mitten in Wohngebieten. © FEMNETKleinere Fabrik (rechts, mit vergitterten Fenstern) liegen oft mitten in Wohngebieten. © FEMNET

Wer arbeitet in den Fabriken?

Laut einer Studie von FTDES sind 86 % der Textilarbeitenden weiblich[4]. Insbesondere junge Frauen zwischen 18 und 35 Jahren arbeiten in den Fabriken, da sie als besonders fleißig und schnell gelten und das hohe Arbeitspensum am ehesten erfüllen können. Über die Hälfte von ihnen stammt aus den ärmeren Regionen im Landesinneren und ist auf der Suche nach Arbeit in die Textilregionen entlang der Küste ausgewandert. Trotz der niedrigen Löhne in den Fabriken senden viele von ihnen regelmäßig Geld an ihre zurückgebliebenen Familien. 20 % der Arbeiterinnen leben selbst in extremer Armut. Die meisten von ihnen verfügen über ein niedriges Bildungsniveau und 7 % sind Analphabeten[5]. Das trägt dazu bei, dass sie sich in einer schwachen Position befinden und leicht zum Opfer von Rechtsverletzungen werden.

Die meisten Näherinnen sind zwischen 18 und 35 Jahren. © FEMNETDie meisten Näherinnen sind zwischen 18 und 35 Jahren. © FEMNET

Schlechte Arbeitsbedingungen und unzureichende Löhne

Fast alle Arbeiter*innen haben befristete Arbeitsverträge. Fabrikbesitzer verweigern ihnen die Festanstellung, obwohl sie nach tunesischem Gesetz dazu nach vier Jahren verpflichtet sind. Dadurch befinden sich die Arbeiter*innen in einer prekären Lage und haben wenig Möglichkeiten sich gegen schlechte Arbeitsbedingungen zu wehren. In vielen Fabriken gibt es nur unzureichende Schutzmaßnahmen und die Arbeiter*innen sind extremen Leistungsanforderungen ausgesetzt. Sie leiden unter Stress und der physischen Belastung durch die stundenlangen monotonen Bewegungen und das Sitzen auf unbequemen Stühlen in der Fabrik. Für Frauen ist es besonders anstrengend, da sie sich nach dem langen Tag in der Fabrik zusätzlich um Haushalt und Kinder kümmern müssen[6]. Nach einigen Jahren Fabrikarbeit leiden die meisten unter Berufskrankheiten wie Gelenkschmerzen und Augenprobleme[7].

Wer Fehler macht, steht unter verschärfter Beobachtung. © FEMNETWer Fehler macht, steht unter verschärfter Beobachtung. © FEMNET

Ein weiteres Problem ist die unzureichende Bezahlung. In Tunesien werden Tarifverträge für die Textilbranche zwischen dem Gewerkschaftsbund UGTT, dem Arbeitgeberverband UTICA und der Regierung verhandelt. Aktuell (Okt. 2019) liegt der Lohn einer Näherin bei ca. 560 Dinar/Monat (175 € / Monat)[8] für eine 48-Stunden Woche. Dies liegt weit unter dem von FTDES in 2016 errechneten existenzsichernden Lohn von 850 Dinar, um die Grundbedürfnisse einer Familie zu stillen. Aufgrund der drastisch steigenden Lebenshaltungskosten in den letzten Jahren liegt der Wert heute deutlich höher. Zudem kommt es durch Kurzarbeit zu Lohnausfällen[9].

Ehem. Näherin zeigt gesundheitliche Folgeschäden. Sie wurde entlassen und rutschte in die Armut. © FEMNETEhem. Näherin zeigt gesundheitliche Folgeschäden. Sie wurde entlassen und rutschte in die Armut. © FEMNET

Nur rund 18 % der Textilarbeiter*innen sind gewerkschaftlich organisiert und Mitglied von UGTT[10]. Für Frauen ist es besonders schwer sich kollektiv zu organisieren, da die Gewerkschaft traditionell von Männern dominiert wird und ihnen aufgrund ihrer Doppelbelastung durch Haushalt und Fabrikarbeit keine Zeit bleibt um für ihre Rechte einzutreten[11].

Abhängigkeit vom Europäischen Markt

Blick in eine Fabrikhalle in Tunesien. © Lea KressBlick in eine Fabrikhalle in Tunesien. © Lea Kress

Die Textilindustrie ist ein Schlüsselsektor für die tunesische Wirtschaft. Die Textilfabriken produzieren überwiegend für den Export und viele von ihnen sind in der Hand ausländischer Investoren – so produzieren laut FTDES 82 % der Fabriken ausschließlich für den Export und 40 % der Fabriken gehören ganz oder teilweise ausländischen Investoren[12]. Es besteht eine starke Abhängigkeit vom europäischen Markt, da 95 % der Textilexporte in die EU gehen – insbesondere nach Frankreich (34 %), Italien (28 %) und Deutschland (10 %)[13]. Dadurch befinden sich europäische Unternehmen in einer machtvollen Verhandlungsposition in der sie Produktionsbedingungen wie Qualität, Preise und Lieferzeiten bestimmen.

Zudem leidet Tunesien unter der Liberalisierung des globalen Textilhandels, die seit dem Ende des Welttextilabkommens 2005 stattgefunden hat. Seitdem befindet sich die tunesische Textilindustrie in einem internationalen Wettbewerb mit Produkten aus Billiglohnländern in Asien sowie anderen Produktionsländern in der Region, beispielsweise Marokko[14]. Dadurch verstärkt sich der Preisdruck auf die tunesische Textilindustrie.

Fabrikschließungen und willkürliche Entlassungen

Streikende tunesische Textilarbeiterinnen Feb 2017 - El KefStreikende tunesische Textilarbeiterinnen Feb 2017 in El Kef. © FTDES

Textilfabriken in Tunesien existieren oft nur für kurze Zeit. Laut FTDES beträgt ihr Durchschnittsalter weniger als zehn Jahre[15]. Dabei kommt es häufig zu unangekündigten Fabrikschließungen, die mit willkürlichen Entlassungen einhergehen. Seit 2005 kam es zu über 900 Fabrikschließungen[16]. Laut FTDES werden die Fabriken häufig unter einem anderen Namen neu gegründet. Dies wird durch das tunesische Investitionsgesetz gefördert, da neu gegründete Firmen während der ersten Jahre u.a. von Zollvergünstigungen profitieren. Außerdem finden die Fabrikschließungen statt, um sich den Pflichten gegenüber Arbeiter*innen zu entledigen – zum Beispiel bezüglich rechtlich verpflichtenden Festanstellungen - und um ältere Arbeiter*innen loszuwerden. Neben der Verhinderung der Festanstellung kommt es zu weiteren Rechtsverletzungen durch die Fabrikschließungen: oftmals werden Löhne vor der Schließung nicht mehr oder nur teilweise gezahlt und Arbeiter*innen stehen plötzlich ohne soziale Absicherung vor geschlossenen Türen, da die Fabrikbesitzer die rechtlich verpflichtenden Sozialabgaben nicht ordnungsgemäß abgeführt haben. Betroffene Arbeiter*innen setzen sich zur Wehr, zum Beispiel durch Protestaktionen oder durch gerichtliche Klagen. Aufgrund von Investorenschutzgesetzen ist es bisher jedoch nicht gelungen, Entschädigungszahlungen zu erwirken[17].

 

 

Aktuelle Nachrichten aus Tunesien

 

Quellen

[1] FWF (2015) Tunisia Country Study (S. 4).
[2] FTDES (2019) Präsentation Speakers Tour (Folie 5).
[3] Basierend auf Zahlen des Ministeriums für Industrie und Handel (2018): Industries textiles et habillement
[4] FTDES (2013) Violations des droits économiques et sociaux des femmes travailleuses dans le secteur du Textile (S. 20).
[5] FTDES (2019) Präsentation Speakers Tours (Folie 19).
[6] Kress (2019) Made by Jeaniuses? The case of a Tunisian jeans factory and the empowerment of female workers (S. 70).
[7] FTDES (2013) Violations des droits économiques et sociaux des femmes travailleuses dans le secteur du Textile (S. 29).
[8] Stand Oktober 2019.
[9] Kress (2019) Made by Jeaniuses? The case of a Tunisian jeans factory and the empowerment of female workers (S. 57).
[10] FWF (2015) Tunisia Country Study (S. 9).
[11] Kress (2019) Made by Jeaniuses? The case of a Tunisian jeans factory and the empowerment of female workers (S. 76).
[12] FTDES (2019) Präsentation Speakers Tours (Folie 6).
[13] FTDES (2019) Präsentation Speakers Tours (Folie 9). Basierend auf Zahlen des Ministeriums für Industrie und Handel (2018): Industries textiles et habillement.
[14] Stanton (2015) Equality and Justice in Employment: A Case Study from Post-Revolution Tunisia. The Equal Rights Review, 15 (S. 119).
[15] FTDES (2013) Violations des droits économiques et sociaux des femmes travailleuses dans le secteur du Textile (S.11).
[16] FTDES (2019) Präsentation Speakers Tour (Folie 18).
[17] Stanton (2015) Equality and Justice in Employment: A Case Study from Post-Revolution Tunisia. The Equal Rights Review, 15 (S. 116–119).

 

 

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