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„Gute Arbeit fairbindet!“ Tunesische Aktivistinnen bei der Speakers Tour 2019 zu Berufsbekleidung und fairer Beschaffung

In Tunesien kämpfen diese Aktivistinnen für würdige Arbeit. Im Rahmen der Fairen Wochen berichteten Amani Allagui von FTDES (Tunesisches Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte) und Houda El Fadhel als ehemalige Textilarbeiterin nun in Deutschland von ihrer Arbeit in den Fabriken und mit den Frauen in der tunesischen Textilindustrie. Ihr Appell richtete sich an europäische Unternehmen und hiesige Beschaffer*innen: Achten Sie beim Einkauf stärker auf Menschenrechte!

Vortrag in Veitsbronn, einer kleinen, aber sehr vorbildhaften Kommune im Landkreis Fürth, Bayern. © Hunderteins GmbHVortrag in Veitsbronn, einer kleinen, aber sehr vorbildhaften Kommune im Landkreis Fürth, Bayern. © Hunderteins GmbHVom 12. bis 19. September 2019 organisierte FEMNET erneut eine bundesweite Vortragsreise, dieses Mal zum Thema Berufsbekleidung. Unter dem Motto „Gute Arbeit fairbindet“ vermittelten die tunesischen Expertinnen ausdrucksstark und nachwirkend ihre Erfahrungen und Forderungen. Zum Abschluss der Vorträge ging es immer um Chancen und Möglichkeiten, um die Arbeitsbedingungen in der Berufskleidungsindustrie zu verbessern und die Rolle der Fairen Beschaffung in Deutschland zu stärken.

Während der Rundreise wurden auf Stationen in Bruchsal, Karlsruhe, Veitsbronn (Landkreis Fürth), Mannheim, Bonn und Köln über 250 Menschen erreicht.

Die Referentinnen

Amani Allagui. © HunderteinsAmani Allagui. © HunderteinsAMANI ALLAGUI, arbeitet seit 2012 als Projektkoordinatorin beim Tunesischen Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte (FTDES). Im Mittelpunkt ihrer Arbeit steht die Verteidigung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte von Arbeitnehmerinnen im Textilsektor. Das Thema liegt ihr sehr am Herzen, da sie viele Frauen persönlich kennt, deren Rechte bei der Arbeit im Textilsektor verletzt werden. Amani Allagui unterstützt die Textilarbeiter*innen sich zu organisieren und leitet viele Protest- und Unterstützungskampagnen, um das Bewusstsein für die Verletzung ihrer Rechte zu schärfen.

Houda El Fadhel. © Hunderteins GmbHHouda El Fadhel. © Hunderteins GmbHHOUDA EL FADHEL, ist mittlerweile Inhaberin ihrer eigenen Polsterei und teilt ihre persönliche Geschichte oft mit anderen, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Textilsektor aufmerksam zu machen. Mit 16 Jahren begann sie als Näherin in einer Bekleidungsfabrik zu arbeiten. 2013 wurde die Fabrik plötzlich ohne Vorankündigung geschlossen - eine Abfindung blieb ihr verwehrt. Auch in den nachfolgenden Beschäftigungen bei einer auf Schwimmbekleidung spezialisierten Fabrik und im Bereich der Möbelpolsterung erfuhr sie verschiedenste Verletzungen ihrer Rechte.

Arbeitsschutz vs. Arbeit schützt

Berufsbekleidung ist ein fester Bestandteil unseres Arbeitslebens: Feuerwehruniformen, Warnjacken, Sicherheitsschuhe ‒ all diese Kleidungsstücke schützen die Arbeiter*innen hier in Deutschland bei ihrer täglichen, teilweise risikoreichen Arbeit. All diese Kleidungsstücke müssen hohe Sicherheits- und Schutzfunktionen erfüllen und werden nach standardisierten Qualitätsnormen produziert. Aber wie steht es um die Arbeitsbedingungen der Menschen, die diese Kleidung herstellen? Gefertigt wird sie beispielsweise in Tunesien, wo es vor allem Frauen sind, die in Nähereien unter katastrophalen Bedingungen schuften müssen.

FTDES, Arbeiter*innen bringen ihre eigenen Kissen mit, um es zumindest halbwegs komfortabel stundenlang an ihrem Arbeitsplatz auszuhalten.© FEMNETFTDES, Arbeiter*innen bringen ihre eigenen Kissen mit, um es zumindest halbwegs komfortabel stundenlang an ihrem Arbeitsplatz auszuhalten.© FEMNETAufgrund der Intransparenz der Branche sind tiefe Einblicke in Fabriken selten möglich. Daher war es eine einmalige Gelegenheit in direktem Kontakt durch die Erfahrungsberichte der beiden Referentinnen und die Ergebnisse unserer Studienreise vor Ort mehr über Teile der Missstände in der Berufsbekleidungsproduktion in Tunesien zu erfahren. Trotz z.T. unterschiedlicher Strukturen und Produktionsverhältnissen, wurde besonders deutlich, dass es - mit dem Blick auf die klassische „modische“ Bekleidungsindustrie – auch in der Berufsbekleidungsindustrie zu sehr ähnlichen Arbeitsrechtsverletzungen kommt. In Tunesien zählen dazu u.a. eine hohe Anzahl von befristeten Arbeitsverträgen und illegale Verlängerungen von befristeten Anstellungsverhältnissen; keine Unterstützung durch Arbeiter*innenvertretung; Löhne reichen nicht zum Leben (nationaler Mindestlohn ca. 131 €/Monat, Stand 2019; Existenzlohn ca. 297 €/Monat, Asia Floor Wage, 2018) sowie Diskriminierung von Arbeiterinnen in Form von Mangel an Kinderbetreuung in den Fabriken und fehlenden Beschwerdemechanismen gezielt für Frauen.

Houda El Fadhle berichtet von ihren Erfahrungen während der Veranstaltung in Bonn, am 17.09.19. © FEMNETHouda El Fadhle berichtet von ihren Erfahrungen während der Veranstaltung in Bonn, am 17.09.19. © FEMNETHouda El Fadhel hat mit 16 Jahren als Auszubildende in einer Textilfabrik angefangen zu arbeiten. Von Beginn an musste sie viele unbezahlte Überstunden leisten und dem massiven Zeitdruck durch beispielsweise zusätzlich reglementierte Toilettengänge standhalten. Diejenigen, die 5 Minuten von der sowieso schon knapp bemessenen Mittagspause zu spät kamen, wurden wieder nach Hause geschickt. Sie und ihre Kolleginnen wurden ständig beleidigt und beschimpft. Einmal wurde sogar absichtlich ein Palettenwagen gegen eine Arbeiterin gestoßen. Während Houda von ihren Erfahrungen erzählte, sah und hörte man an ihrer aufgebrachten Stimme (ihr arabisch wurde von einer Dolmetscherin ins Deutsche übersetzt) wie sehr sie diese Umstände immer noch verletzen und wütend machen.

Die brennende Frage: Was können wir tun?

Nach fast jedem Vortrag kam die Frage, was aus ihrer Sicht denn hier in Deutschland getan werden muss, um die Situation in den Produktionsbetrieben zu verbessern. Darauf gibt es nicht die eine Antwort, sondern mehrere Empfehlungen und Forderungen u.a. an Kommunen und Hersteller*innen:

Was können wir tun?

Außerdem betonte Amani Allagui, dass die Mitgliedschaft der Hersteller/Auftraggeber in einer unabhängigen Multistakeholder-Initiative wie der Fair Wear Foundation positive Einflüsse auf die Arbeitsbedingungen der

Textilarbeiter*innen in den Produktionsfabriken habe. Dies wäre besonders durch erhöhte Transparenz, begleitete Verbesserung von Missständen, regelmäßige Überprüfungen und ausreichende Beschwerdemechanismen für die Arbeiter*innen gewährleistet. Trotzdem sei eine Zertifizierung oder Mitgliedschaft kein Allheilmittel, sondern nur ein Schritt (von vielen notwendigen) auf dem Weg zu mehr Nachhaltigkeit in der Berufsbekleidungsindustrie.

Die öffentliche Hand besitzt insgesamt eine große Marktmacht: Allein in Deutschland werden jährlich ca. 280-360 Milliarden Euro für die öffentliche Beschaffung ausgegeben. Etwa die Hälfte wird durch die Kommunen verantwortet. Einen ganz erheblichen Anteil daran hat der Einkauf von Dienst- und Schutzkleidung, etwa für den Garten- und Forstbetrieb, die Müllabfuhr, die Feuerwehr, Krankenhäuser, etc. Wird hier darauf geachtet, dass bei der Beschaffung Menschen- und Arbeitsrechte eingehalten werden, hat das einen großen Effekt für alle – sowohl für die Arbeiter*innen weltweit als auch für Beschaffungsverantwortliche und Bedarfsträger*innen.  

Weiterführende Informationen

Die Studie zu Arbeitsbedingungen in der Produktion von Berufsbekleidung entsteht im Rahmen unserer Projektarbeit zu fairer öffentlicher Beschaffung.

 

Veranstaltung in Bruchsal am 12.09.2019. © FEMNET
Veranstaltung in Karlsruhe am 12.09.2019. © FEMNET
Veranstaltung in Karlsruhe am 12.09.2019. © FEMNET
Veranstaltung in Veitsborn am 13.09.2019. © Hunderteins GmbH
Veranstaltung in Veitsborn am 13.09.2019. © Hunderteins GmbH
Veranstaltung in Mannheim am 16.09.2019. © FEMNET
Veranstaltung in Bonn am 17.09.2019. © FEMNET
Veranstaltung in Bonn am 17.09.2019. © FEMNET
Videodreh in Bonn am 18.09.2019. © FEMNET
Videodreh in Bonn am 18.09.2019. © FEMNET
Videodreh in Bonn am 18.09.2019. © Hunderteins GmbH
Videodreh in Köln am 19.09.2019. © FEMNET
Videodreh in Köln am 19.09.2019. © FEMNET
Videodreh in Köln am 19.09.2019. © FEMNET

 

 

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