Nachrichten zu unserer Arbeit - Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz Foto: © FEMNET 15. April 2024 Delegationsreise nach Indien: Fokus auf Geschlechtergerechtigkeit, Rechteinhaber*innen und Arbeitnehmer*innenrechte in der Textilbranche Anfang Dezember 2023 war FEMNET Teil einer Delegationsreise nach Indien. Die Reise stand ganz im Zeichen wichtiger Themen wie Geschlechtergerechtigkeit, Rechteinhaber*innen und Arbeitnehmer*innenrechte in der Textilbranche. Diese Mission wurde im Rahmen des Sektorvorhabens der Bundesregierung zu 'Soziale und Ökologische Transformation von textilen Lieferketten' durchgeführt, das für den Grünen Knopf, die Initiative Siegelklarheit und das Bündnis für nachhaltige Textilien zuständig ist. Gemeinsam mit Vertreter*innen der Deutschen Botschaft Delhi, des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ), Vertreter*innen zwei deutscher Unternehmen sowie der zivilgesellschaftlichen Organisation INKOTA-Netzwerk reiste FEMNET in verschiedene Textilzentren im Süden Indiens. Das breite Spektrum der mitreisenden Interessengruppen verdeutlicht die Vielfalt und den ganzheitlichen Ansatz unserer Bemühungen für eine nachhaltige Zukunft. Der Besuch von Zulieferfabriken, Austausch zu Schlüsselthemen wie Geschlechtergerechtigkeit, Beschwerdemechanismen und ökologischer Baumwolle, die Einbindung von Rechteinhaber*innen in verschiedenen Aspekten sicherzustellen, waren nur einige der Ziele, die sich die Delegation gesetzt hatte. Projektleiterin Luise Tegeler und FEMNET-Beraterin Lavinia Muth haben Erkenntnisse und Ergebnisse in folgenden Bericht zusammengefasst (bitte hier klicken) „Unsere Reise begann in Delhi, der geschäftigen Hauptstadt Indiens, wo wir uns mit wichtigen Organisationen wie der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) und Institutionen wie der Indisch-Deutschen Handelskammer trafen, um die Situation in der indischen Textilindustrie zu erörtern. Die pulsierende Energie der Stadt, kombiniert mit ihrer enormen Bevölkerung von 32,9 Millionen Einwohner*innen, verlieh unseren Diskussionen eine gewisse Dringlichkeit. Nach drei Tagen in der (smoggeplagten) Metropole setzten wir unsere Reise in den Süden des Landes fort, ins Textilzentrum rund um Coimbatore und Tirrupur im Bundesstaat Tamil Nadu. In Dindigul, Tamil Nadu, erwartete uns ein wichtiger Besuch in der Textilfabrik Natchi Apparels, die als Unterzeichner des Dindigul Agreements eine zentrale Rolle im Kampf gegen Geschlechterdiskriminierung und Gewalt am Arbeitsplatz spielt. Hier erhielten wir nicht nur einen Einblick in die Arbeitsbedingungen, sondern auch in die bemerkenswerte Dynamik zwischen Fabrikmanagement, Arbeitnehmer*innen und der lokalen Dalit-Frauen-Gewerkschaft TTCU (Tamil Nadu Textile and Common Labor Union), derer das innovative und vielversprechende Dindigul Agreement zu grunde liegt. Thivya Rakini, TTCU. © FEMNETEin Höhepunkt der Reise war der bewegende Besuch des Büros von TTCU in Dindigul. Dort erzählte uns die Gewerkschaftsführerin Thivya Rakini die bewegende Gründungsgeschichte der Gewerkschaft, beschrieb den steinigen Weg hin zum Dindigul Agreement und machte uns auf die Herausforderungen aufmerksam, denen Frauen nicht nur am Arbeitsplatz in der Textilindustrie, sondern auch im täglichen Leben und in Führungspositionen gegenüberstehen. Im Anschluss an den Besuch bei der Gewerkschaft waren die Teilnehmenden der Fachdelegation zu einem Community Event in Dindigul eingeladen, welches TTCU organisiert hatte. Die Rechteinhaberinnen (da TTCU eine reine Frauengewerkschaft ist, nahmen auch nur Frauen an dem Event teil) teilten bei dieser Zusammenkunft ihre Perspektiven auf das Dindigul Agreement aber auch darüber hinaus auf die Gewerkschaftsarbeit und daraus resultierenden Erfolge und Verbesserungen, und richteten Fragen an die deutschen Reiseteilnehmenden. So kam es zu einem interaktiven Austausch. TTCU, gemeinsam mit Global Labor Justice-International Labor Rights Forum und Asia Floor Wage Alliance, unterzeichnete 2022 das historische Dindigul Agreement, um Gewalt und Belästigung am Arbeitsplatz zu bekämpfen. Das Dindigul Agreement ist ein enforceable brand agreement (EBA), welches bahnbrechend für die Textilindustrie und darüber hinaus ist, weil es nicht nur auf freiwillige Selbstverpflichtung von einzelnen Akteuren in Lieferketten setzt. Es besteht aus zwei ineinandergreifenden Verträgen, die beide rechtsverbindlich sind. Die erste Vereinbarung erfolgte zwischen TTCU und dem Zulieferer Eastman Exports: Diese beiden Parteien haben sich vertraglich verpflichtet, geschlechtsspezifische Gewalt und Belästigung in allen Eastman-Einrichtungen - Fabriken, Wohnheime, Spinnereien, Druckereien und Ausbildungszentren - in der Region Dindigul zu beenden. Darüber hinaus haben TTCU, die Asia Floorwage Alliance (AFWA) und die US-amerikanischen Gruppe Global Labor Justice - International Labor Rights Forum (GLJ-ILRF) auf der einen Seite und die Unternehmen H&M, GAP und PVH (Eigentümer von Calvin Klein und Tommy Hilfiger) auf der anderen Seite einen weiteren Vertrag geschlossen. Diese Vereinbarung verpflichtet die unterzeichnenden Unternehmen dazu, die TTCU-Eastman-Vereinbarung zu unterstützen und durchzusetzen und ihrem Zulieferer Eastman geschäftliche Konsequenzen aufzuerlegen, wenn sie sich nicht daran halten. Der erste Fortschrittsbericht zum einjährigen Bestehen des Abkommens zeigt bereits, dass das Dindigul Agreement wirksam ist und die Situation von Arbeiter*innen in den teilnehmenden Fabriken aktiv verbessert hat. Das Abkommen wird daher auch vom Bündnis für nachhaltige Textilien unterstützt. Die im Oktober 2023 gestartete Bündnisinitiative „Worker-led Gender Justice – Scaling up the Dindigul Agreement“, an der auch FEMNET maßgeblich beteiligt ist, baut auf dem Modell des Dindigul Agreements auf. Sie setzt sich dafür ein, dass weitere Modemarken und ihre Zulieferbetriebe solche Abkommen schließen, um zu einer positiven Veränderung der Arbeitsbedingungen, insbesondere im Hinblick auf geschlechtsspezifische Gewalt im Textilsektor in Indien, beizutragen. Besuch bei Natchi Apparels Eastman Exports. © FEMNETInsbesondere vor diesem Hintergrund waren der Besuch bei Natchi Apparels (Eastman) sowie TTCU besonders wichtige Schlüsselmomente der Reise, in denen alle Teilnehmenden von den Erfahrungen der Stakeholder um das Dindigul Agreement lernen und sich von den bereits erzielten Erfolgen wie der Einrichtung eines Shop Floor Monitor Systems oder eines ausschließlich durch Frauen besetzten Internal Complaint Committees - direkte funktionierende Beschwerdemechanismen auf Fabrikebene - überzeugen konnten. FEMNET konnte die Zeit vor Ort weiterhin dafür nutzen, um die Zusammenarbeit mit den Akteuren auf indischer Seite zu vertiefen und nächste Projektziele und -Schritte zu planen. Die Delegationsreise endete mit einem diversen Stakeholder-Dialog zu Geschlechtergerechtigkeit in Coimbatore, bei dem Vertreter*innen aus verschiedenen Bereichen zusammenkamen, um die drängenden Fragen der Befähigung von Frauen und Rechteinhaber*innen in der Textilindustrie zu diskutieren. Die Teilnehmer*innen betonten die Bedeutung einer verstärkten Zusammenarbeit zwischen Unternehmen, Lieferanten, Gewerkschaften und Zivilgesellschaft, um Geschlechtergerechtigkeit und verbesserte Arbeitsbedingungen zu erreichen. Trotz vorhandener Gesetze und Initiativen wurden strukturelle und gesellschaftliche Hindernisse identifiziert, die Frauen den Zugang zu mittleren und Führungspositionen erschweren. Es wurde vereinbart, den Austausch und die Zusammenarbeit zu intensivieren, um gemeinsam mehr zu erreichen und Geschlechtergerechtigkeit in der Textilindustrie voranzutreiben. Unsere Diskussionen und Begegnungen haben gezeigt, dass dieser Weg nicht einfach, aber von entscheidender Bedeutung für eine nachhaltige und gerechte Entwicklung der Textilindustrie in Indien und global ist.“ Das Fazit der Reise ist durchweg positiv. Mit neuen lokal Partner*innen, darunter die Tamil Nadu Textile and Common Labour Union (TTCU) wurde der Grundstein für die zukünftige Zusammenarbeit gelegt. Treffen und Stakeholder-Dialog boten eine Plattform für den Austausch zu Schlüsselthemen wie Geschlechtergerechtigkeit, Beschwerdemechanismen und auch ökologischer Baumwolle. Die Diskussionen lieferten wertvolle Ideen und Einblicke, die für zukünftige PST-Initiativen genutzt werden können. Der Besuch der Zulieferfabriken, insbesondere bei Natchi Apparels/Eastman Exports, schuf ein noch besseres Verständnis der Arbeitsbedingungen vor Ort, für Probleme und Herausforderungen. Diese direkten Einblicke sind entscheidend für die Entwicklung nachhaltiger Lösungen. Die Einbeziehung von Rechteinhaber*innen war ein Kernelement der Reise. Die zahlreichen Treffen und Austausche mit lokalen Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen wie Asia Floor Wage Alliance und TTCU zeigen, dass die vielfältigen Perspektiven von Rechteinhaber*innen gehört werden und Rechteinhaber*innen selbst aktiv in Projekte vor Ort einbezogen werden müssen. Während der Reise wurden neue Projektideen diskutiert, insbesondere im Zusammenhang mit dem Dindigul Agreement und der Förderung von Geschlechtergerechtigkeit am Arbeitsplatz. Diese Ideen können in zukünftigen Initiativen umgesetzt werden, um weitere positive Veränderungen herbeizuführen. Die äußerst produktive Reise verdeutlichte einmal mehr, dass auch zukünftig der Fokus auf die Auswirkungen internationaler Gesetzgebung wie das deutsche und europäische Lieferkettengesetz und die Beteiligung aller relevanten Stakeholder*innen beibehalten werden muss. Nur so kann ein umfassender Ansatz zur Förderung von Nachhaltigkeit und Fairness in der Textilindustrie zu gewährleisten werden. Kategorie: Geschlechtsspezifische Gewalt am Arbeitsplatz