Nachrichten - Faire öffentliche Beschaffung

Mehrere Näherinnen an ihrem Arbeitsplatz in Indien

© FEMNET

Gut geschützt? Ausbeutung für europäische Berufsbekleidung - Studien erschienen

Extrem niedrige Löhne, befristete Verträge und die Unterdrückung von Gewerkschaften: Zwei neue Studien von FEMNET kritisieren prekäre Arbeitsverhältnisse in der Herstellung von Berufsbekleidung in Indien und Tunesien. Eingekauft werden solche Waren auch durch öffentliche Institutionen in Deutschland.

Uniformen, Warnjacken und Sicherheitshosen sollen u.a. Beschäftigte in Deutschland schützen. Doch welchen Schutz erfahren die Personen, die diese Kleidungsstücke herstellen? Über die Studienergebnisse und Handlungsempfehlungen informieren Sie die Länderstudien auf Englisch und die zusammenfassenden Factsheets auf Deutsch.

Katastrophale Arbeitsbedingungen

Im Auftrag von FEMNET recherchierten die indische Organisation Cividep und das tunesische Institut FTDES in insgesamt sieben Textilfabriken. Sie führten dort Interviews mit Angestellten und mit dem Management. Diese Recherchen sind vor allem deswegen wichtig, weil bisher extrem wenig Forschung zu Arbeitsbedingungen in der Berufsbekleidungsindustrie gemacht wurden; die allermeisten Studien gibt es zu Alltagsmode. Das katastrophale Ergebnis: Die Arbeitsbedingungen in der Herstellung von Berufsbekleidung sind genauso schlecht wie in vielen anderen Modebranchen. Diese Ergebnisse spielen für die öffentliche Beschaffung eine zentrale Rolle: Immer mehr Kommunen wollen Arbeits- und Sozialnormen in ihre Beschaffungspraxis integrieren.

Erzwungene Überstunden in indischen Betrieben

Titelblatt der Studie Workwear made in IndiaDie Textilindustrie ist einer der ältesten und größten Industriezweige Indiens. Sie besteht aus einem weitreichenden und oft schwer zu überblickendem Netz an Fabriken, Zulieferfirmen und Subunternehmen. Die Textil- und Bekleidungsbranche erwirtschaftet etwa 15 % der Exporteinnahmen Indiens und bietet über 45 Mio. Personen Lohnarbeit. In Nordindien ist die Mehrheit der Angestellten Männer. In Südindien hingegen besteht die Belegschaft zu 80 bis 90 % aus weiblichen Beschäftigten, die meisten von ihnen Industriearbeiter*innen der ersten Generation. Neben Alltagsmode wird in Indien auch immer mehr Berufsbekleidung für Europa produziert.

In Indien wurde in drei Zulieferbetriebe recherchiert, die an drei europäische Firmen liefern: der deutsche Atemschutzhersteller BartelsRieger, das deutsche Textilunternehmen Olymp sowie das tschechische Berufsbekleidungsunternehmen Cerva. Besonders frappierend: In diesen Fabriken arbeiten Angestellte unter Bedingungen, die von Zwangsarbeit im engeren Sinne nicht weit entfernt sind. Beschäftigte verdienen ein extrem niedriges Grundgehalt, das durch tägliche Überstunden aufgestockt werden muss. Diese Überstunden sind aber nicht freiwillig. Sie können nur unter dem Risiko abgelehnt werden, den Arbeitsplatz zu verlieren. Versuchen Angestellte gegen diese untragbaren Bedingungen vorzugehen, droht die Kündigung: Das Fabrikmanagement ging in allen untersuchten Betrieben aktiv gegen Gewerkschaften vor.

Download der Länderstudie Indien

 

Hohe Jobunsicherheit in tunesischen Fabriken 

Titelblatt der Studie Workwear made in TunisiaDer Textilsektor in Tunesien boomte seit den 1970er Jahren, erfährt in den letzten 15 Jahren jedoch einen Rückgang. Insgesamt etwa 20.000 Beschäftigte nähen Berufsbekleidung; insgesamt arbeiten über 160.000 Personen in der Textilindustrie, vier Fünftel von ihnen Frauen. Die Textilbranche spielt eine wichtige Rolle für die tunesische Wirtschaft: Ein Fünftel des Bruttoinlandsproduktes und ein Fünftel der Exporteinnahmen werden durch Textil- und Bekleidungsproduktion erwirtschaftet. Deutsche und europäische Firmen sind wichtige Abnehmer für in Tunesien genähte Berufsbekleidung: 95 % der Exporte gehen in die EU, allein 14 % nach Deutschland.

Im Auftrag von FEMNET wurden vier Fabriken unter die Lupe genommen, die Schutz- und Arbeitskleidung für drei europäische Marken nähen: den deutschen Hersteller S-Gard, den niederländischen Betrieb Havep und das belgische Brand Alsico. Ergebnis: Die Situation in tunesischen Zulieferbetrieben ist untragbar. Beschäftigte verdienen extrem niedrige Löhne, die weit unterhalb eines existenzsichernden Einkommens liegen. Und nicht nur das: Sie bekommen immer wieder kurzzeitig befristete Verträge, obwohl langjährigen Mitarbeitenden ein unbefristeter Vertrag gesetzlich zusteht. Möglich macht dies eine perfide Praktik: Fabriken werden von einem auf den anderen Tag geschlossen und wieder neu eröffnet. Verträge verlieren ihre Gültigkeit; Beschäftigte werden oft zu schlechteren Bedingungen wieder neu eingestellt.

Download der Länderstudie Tunesien

 

Wenn sie Fehler machen, stehen die Näher*innen unter verschärfter Beobachtung. Tunesien, 2018. © FEMNETWenn sie Fehler machen, stehen die Näher*innen unter verschärfter Beobachtung. Tunesien, 2018. © FEMNET

Mehr Transparenz bei Mitgliedern der Fair Wear Foundation

FEMNET konfrontierte die europäischen Marken mit den alarmierenden Zuständen in ihren Fabriken und forderte sie zu einer Stellungnahme auf. Keines der Unternehmen, die in Indien produzieren lassen – BartelsRieger, Olymp und Cerva – kam dieser Aufforderung nach. Antworten erhielten wir von Firmen mit Zulieferbetrieben in Tunesien: S-Gard, Havep und Alsico. Lediglich S-Gard und Havep, die Mitglieder in der Multi-Stakeholder-Initiative Fair Wear Foundation sind, konnten mit Transparenz punkten. Sie nahmen die festgestellten Missstände zur Kenntnis und arbeiten laut eigener Angabe an deren Beseitigung. Havep gibt an, alle Löhne zumindest auf das gesetzliche Mindestlohn-Niveau angepasst zu haben. S-Gard befindet sich, unterstützt durch die Fair Wear Foundation, in einem Prozess zur Einführung eines existenzsichernden Lohns.

Die Berufsbekleidungsindustrie muss fairer werden

Titelblatt des Factsheet "Berufsbekleidung: Die Rolle europäischer Unternehmen und der öffentlichen Beschaffung"FEMNET fordert: Europäische Markenunternehmen müssen durch ein Lieferkettengesetz dazu verpflichtet werden, ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen. Sie müssen ihre Zulieferbetriebe weltweit dazu anhalten, nationale wie internationale Arbeitsnormen einzuhalten. Dazu gehört: die Zahlung eines existenzsichernden Lohns, die Freiwilligkeit von Überstunden sowie das Recht auf Vereinigungsfreiheit. Die faire Beschaffung kann dazu beitragen, diese Ziele zu erreichen: zum einen durch eine konsequent faire Beschaffungspraxis; zum anderen durch die deutliche, proaktive Forderung an Berufsbekleidungsunternehmen, Arbeitsnormen einzuhalten. 

 

 

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